Der Tausch

 


   

Zwei Frauen auf der Flucht. Eine Entscheidung, die alles verändert. Und kein Weg zurück.

New York, Flughafen JFK: Claire soll nach Puerto Rico reisen, um ihren Mann, einen ehrgeizigen Politiker, beim Wahlkampf zu unterstützen. Doch in Wahrheit will sie nichts als fliehen – vor seinen gewalttätigen Übergriffen und der lückenlosen Kontrolle, die er über sie ausübt. Sie kommt mit Eva ins Gespräch, die bei ihrem schwerkranken Mann Sterbehilfe geleistet hat. Zu Hause in Kalifornien erwartet sie die Polizei. Innerhalb weniger Sekunden beschließen sie, die Bordkarten zu tauschen und sich gegenseitig ein neues Leben zu schenken.

Erleichtert landet Claire in Kalifornien. In Evas Haus gibt es allerdings keine Hinweise auf einen Ehemann. Dann erfährt sie, dass das Flugzeug nach Puerto Rico abgestürzt ist. Und kurz darauf entdeckt sie die vermeintlich abgestürzte Eva in einer Fernsehreportage über das Unglück. Lebendig. Hat sie die Flucht in das Leben einer Anderen am Ende doch nur in eine Falle gelockt?

 

 

Die Story wird aus zwei Perspektiven erzählt einmal aus der Sicht von Clair und aus der Sicht von Eva. Beide Perspektiven sind gut und auch Flüssig geschrieben und sie ergeben auch einen Sinn und es gibt keine Wiedersprüche. Auch sind beide Frauen sehr Sympathisch und kommen nett und freundlich rüber.

Clair ist mit dem Abgeordneten Roy verheiratet der sie fast Täglich misshandelt, sie will nur noch weg von Roy und beschließt ihn zu verlassen. Sie plant mit ihrer Freundin die Flucht von Roy und aus Angst das sie gefunden wird macht sie sich noch eine Sicherung von dem Computer von Roy. Alles scheint gut zu laufen.

Am Flughafen soll sie nach Puerto Rico fliegen, sie muss aber nach Detroit den da ist ihre Neue Identität. Am Flughafen trifft sie dann auf Eva die ihr erzählt das sie gesucht wird weil sie Ihrem Mann Sterbehilfe gegeben hat und von der Polizei gesucht wird. Kurz entschlossen tauschen sie die Identität und Eva fliegt nach Puerto Rico und Clair selber bleibt dort.

Als Clair dann bei Eva in Oakland angekommen ist erfährt sie das eigentlich ihr Flugzeug abgestürzt ist.

Nun hat sie auch noch Schuldgefühle, weil Eva wegen ihr gestorben ist. Sie übernachtet in dem Haus von Eva und findet raus das die ganze Geschichte nicht Stimmig ist. Auch war der Platz auf dem Eva hätte sitzen müssen frei. Ist Eva nicht tot?

Ist Clair nun Frei? Oder wurde ein Falsches Spiel gespielt? Ist ihr Plan aufgeflogen das sie fliehen wollte?

Das lest ihr aber nun selber……

 

 

 

Leseprobe

PROLOG 

John F. Kennedy Airport, New York Dienstag, 22. Februar

Der Tag des Absturzes In Terminal 4 wimmelt es von Menschen, der Geruch von feuchter Wolle und Kerosin umgibt mich. Ich warte direkt hinter der Glasschiebetür, und jedes Mal, wenn sie sich öffnet, schlägt mir die kalte Winterluft entgegen. Ich stelle mir stattdessen eine milde puerto-ricanische Brise vor, die den Duft von Hibiskus und Meersalz trägt. Das weiche Spanisch, das dort gesprochen wird, hüllt mich ein und löscht die Person aus, die ich vorher war. Draußen dröhnt es, wenn Flugzeuge in den Himmel aufsteigen, während drinnen schwer verständliche Ansagen aus den Lautsprechern erklingen. Irgendwo hinter mir spricht eine ältere Frau schrill und abgehackt auf Italienisch. Aber ich wende den Blick nicht vom Bordstein ab, richte die Augen auf den überfüllten Gehweg vor dem Terminal und suche nach ihr, knüpfe meinen Glauben – und meine ganze Zukunft – an die Tatsache, dass sie kommen wird.

 

Ich weiß nur drei Dinge über sie: ihren Namen, wie sie aussieht und dass ihr Flug heute Morgen geht. Mein Vorteil – sie weiß nichts über mich. Ich bekämpfe die Panik, dass ich sie irgendwie verpasst haben könnte. Dass sie schon weg sein könnte und mit ihr meine Chance, dieses Leben hinter mir zu lassen und in ein anderes zu schlüpfen. Menschen verschwinden jeden Tag. Der Mann, der bei Starbucks in der Schlange steht und sich einen letzten Kaffee kauft, bevor er ins Auto steigt und in ein neues Leben fährt, der eine Familie zurücklässt, die sich für immer fragen wird, was passiert ist. Oder die Frau, die in der letzten Reihe im Greyhound-Bus sitzt, aus dem Fenster starrt, während der Wind Haarsträhnen über ihr Gesicht weht, und eine Geschichte auslöscht, die zu schwer zu ertragen ist. Man sitzt vielleicht Schulter an Schulter mit jemandem, der in diesem Augenblick den letzten Moment als derjenige erlebt, der er war, und weiß es nicht. Aber nur sehr wenige Menschen machen sich klar, wie schwierig es ist, wirklich zu verschwinden. Welche Sorgfalt notwendig ist, um auch die winzigste Spur zu beseitigen. Denn da ist immer etwas. Ein kleiner Faden, ein Fünkchen Wahrheit, ein Fehler. Es ist nur ein winziger Umstand nötig, um alles zunichtezumachen. Ein Anruf im Moment der Abreise. Ein Blechschaden drei Straßen vor der Autobahnauffahrt. Ein Flugausfall. Eine Reiseplanänderung in letzter Minute. Durch die beschlagene Glasscheibe sehe ich eine schwarze Limousine am Bordstein halten und weiß, dass sie es ist, bevor die Tür aufgeht und sie aussteigt. Als sie es tut, verabschiedet sie sich nicht von demjenigen, der mit ihr auf dem Rücksitz ist. Stattdessen eilt sie über den Gehweg und durch die Schiebetür, so nah, dass ihr rosa Kaschmirpullover meinen Arm streift, weich und einladend. Ihre Schultern sind hochgezogen, wie in Erwartung des nächsten Schlags, des nächsten Angriffs. Sie ist eine Frau, die weiß, wie leicht ein Fünfzigtausend-Dollar-Teppich die Haut ihrer Wangen zerfetzen kann. Ich lasse sie vorbeigehen und hole tief Luft, um mich ein wenig zu entspannen. Sie ist hier. Ich kann anfangen. Ich hänge meine Tasche über die Schulter und folge ihr, schlüpfe bei der Sicherheitskontrolle in die Schlange direkt vor ihr, denn ich weiß, dass Menschen auf der Flucht nur hinter sich schauen, niemals nach vorn. Ich warte auf eine Gelegenheit. Sie weiß es noch nicht, aber bald wird sie eine der Verschwundenen sein. Und ich werde mich wie eine Rauchfahne am Himmel auflösen und verschwinden.

 

CLAIRE

Montag, 21. Februar 

Der Tag vor dem Absturz

 »Danielle«, sage ich, als ich das kleine Büro betrete, das neben unserem Wohnzimmer liegt. »Sagen Sie bitte Mr. Cook, dass ich ins Fitnessstudio gehe.« Sie blickt von ihrem Computer auf, und ich sehe, dass ihr Blick an dem notdürftig mit Make-up kaschierten Bluterguss unten an meinem Hals hängen bleibt. Automatisch rücke ich den Schal zurecht, um den Fleck zu verstecken, obwohl ich weiß, dass sie kein Wort darüber verlieren wird. »Wir haben um vier Uhr einen Termin im Literaturhaus in der Center Street«, sagt Danielle. »Sie werden wieder zu spät kommen.« Danielle behält den Überblick über meinen Terminkalender und meine Fehltritte, und sie ist diejenige, die Bericht erstattet, wenn ich zu spät komme oder einen Termin absage, den mein Mann Rory für wichtig hält. Wenn ich für den Senat kandidiere, können wir uns keine Fehler leisten, Claire. »Danke, Danielle. Ich kann den Terminkalender ebenso gut lesen wie Sie.

Bitte laden Sie meine Notizen vom letzten Mal hoch, und halten Sie sie bereit. Wir treffen uns dort.« Als ich den Raum verlasse, höre ich, wie sie zum Telefon greift, und verlangsame den Schritt, obwohl ich weiß, dass dies ein denkbar schlechter Zeitpunkt ist, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ich werde immer gefragt, wie es ist, in die Cook-Familie eingeheiratet zu haben, eine Politikerdynastie, die gleich nach den Kennedys kommt. Ich lenke dann ab, indem ich von unserer Stiftung erzähle, geschult, mich auf die Arbeit statt auf die Gerüchte zu konzentrieren. Auf unsere Alphabetisierungsprogramme und Bewässerungsinitiativen in der Dritten Welt, die Beratungsdienste in der Stadt und die Krebsforschung. Ich kann niemandem erzählen, dass es ein ständiger Kampf um Privatsphäre ist. Selbst bei uns zu Hause sind zu jeder Tageszeit irgendwelche Leute anwesend. Mitarbeiter. Hausangestellte, die für uns kochen und sauber machen. Ich muss um jede Minute und jeden Zentimeter für mich kämpfen. Nirgendwo bin ich vor Rorys Personal sicher. Alle von ihnen sind engagierte Cook-Mitarbeiter. Selbst nach zehn Jahren Ehe bin ich noch ein Eindringling. Der Außenseiter, den man im Auge behalten muss. Ich habe gelernt, dafür zu sorgen, dass sie nichts zu sehen bekommen. Das Fitnessstudio ist einer der Orte, an die Danielle mir nicht mit Listen und Terminkalendern folgt. Ich treffe mich dort mit Petra, der einzigen Freundin, die mir aus meinem Leben vor Rory geblieben ist, und die einzige, die aufzugeben er mich nicht gezwungen hat. Denn Rory weiß gar nicht, dass sie existiert.

Als ich beim Fitnessstudio ankomme, ist Petra schon da. Ich ziehe mich im Umkleideraum um, und als ich die Treppe zu den Laufbändern hinaufsteige, steht sie am Treppenabsatz und nimmt sich ein Handtuch vom Stapel. Unsere Blicke begegnen sich kurz, doch als ich mir ein Handtuch nehme, sieht sie in die andere Richtung. »Bist du aufgeregt?«, flüstert sie. »Ich habe schreckliche Angst«, sage ich, wende mich ab und gehe weg. Ich laufe eine Stunde, und als ich um genau halb drei, in ein Handtuch gewickelt, die Sauna betrete, schmerzen meine Muskeln vor Erschöpfung. Ich lächle Petra an, die allein in der obersten Reihe sitzt. Ihr Gesicht ist rot vor Hitze. »Erinnerst du dich an Mrs. Morris?«, fragt sie, als ich mich neben sie setze. Ich lächle, dankbar, dass ich an einfachere Zeiten denken kann. Mrs. Morris war unsere Lehrerin in der zwölften Klasse, und Petra hätte beinahe das Klassenziel nicht erreicht. »Du hast einen Monat lang jeden Nachmittag mit mir gelernt«, fährt sie fort. »Als keiner der anderen Schüler etwas mit mir oder Nico zu tun haben wollte wegen unseres Vaters. Du bist zu mir gekommen und hast dafür gesorgt, dass ich den Schulabschluss schaffe.« Ich drehe mich auf der Holzbank zu ihr um. »Du tust so, als wären du und Nico Ausgestoßene gewesen. Ihr hattet Freunde.« Petra schüttelt den Kopf. »Menschen, die nur nett zu dir sind, weil dein Vater die russische Ausgabe von Al Capone ist, sind keine Freunde.« Wir waren auf einer Eliteschule in Pennsylvania, wo die Kinder und Enkelkinder von altem Geldadel Petra und ihren Bruder Nico als spannende Fremdkörper betrachteten und sich ihnen näherten, als wäre es eine Mutprobe herauszufinden, wie nahe man ihnen kommen konnte.

Aber sie nahmen keinen von beiden in ihren Kreis auf. Und so bildeten wir ein Außenseitertrio. Petra und Nico sorgten dafür, dass sich keiner über meine Secondhanduniform oder den ramponierten Honda lustig machte, mit dem meine Mutter mich immer abholte. Sie sorgten dafür, dass ich nicht alleine aß, und schleiften mich zu Schulveranstaltungen, an denen ich sonst nicht teilgenommen hätte. Sie stellten sich zwischen mich und die anderen Kids, die grausame, verletzende Bemerkungen darüber machten, dass ich nur eine Externe mit Stipendium war. Zu arm, zu gewöhnlich, um wirklich eine von ihnen zu sein. Petra und Nico waren Freunde, als ich keine hatte. Es schien Schicksal zu sein, als ich vor zwei Jahren ins Fitnessstudio kam und Petra sah, wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit. Aber ich war nicht dieselbe Person, an die Petra sich von der Highschool erinnern würde. Zu viel hatte sich verändert. Zu viel würde ich erklären müssen, über mein Leben und was ich im Lauf der Zeit aufgegeben hatte. Und so hielt ich den Kopf gesenkt, während Petras Blick mich durchbohrte und mich aufforderte, sie ebenfalls anzusehen. Sie zu erkennen. Als ich mein Trainingsprogramm beendet hatte, ging ich in den Umkleideraum und hoffte, ich könnte mich in der Sauna verstecken, bis Petra gegangen war. Aber als ich eintrat, war sie dort. Als ob wir es die ganze Zeit geplant hatten. »Claire Taylor«, sagte sie.

Als ich sie meinen Namen sagen hörte, musste ich unwillkürlich lächeln. Petras Tonfall und Sprachmelodie waren immer noch vom Russischen geprägt, das sie zu Hause sprach. Sofort hatte ich mich wieder wie ich selbst gefühlt, nicht wie die Person, die ich über die Jahre als Rorys Ehefrau gewesen war, glänzend und undurchschaubar, mit verborgenen Geheimnissen unter einer harten Schale. Wir tasteten uns langsam vor. Wir machten Small Talk, der schnell persönlich wurde, als wir uns über die Jahre austauschten, die vergangen waren, seit wir uns zuletzt gesehen hatten. Petra hatte nicht geheiratet. Sie ließ sich treiben, unterstützt von ihrem Bruder, der jetzt das Familienunternehmen führte. »Und du«, sagte sie und deutete auf meine linke Hand. »Du bist verheiratet?« Ich sah sie prüfend an, überrascht, dass sie es nicht wusste. »Ich habe Rory Cook geheiratet.« »Beeindruckend«, sagte Petra. Ich sah weg und wartete darauf, dass sie fragte, was die Leute immer fragen – was wirklich mit Maggie Moretti passiert sei, deren Name für immer mit meinem Mann verbunden sein wird. Das Mädchen, das zweifelhaften Ruhm erlangt hatte, nur weil sie vor langer Zeit Rory geliebt hatte. Aber Petra lehnte sich nur auf ihrer Bank zurück und sagte: »Ich habe das Interview gesehen, das er Kate Lane bei CNN gegeben hat. Was er mit der Stiftung geleistet hat, ist bemerkenswert.« »Rory ist ein sehr leidenschaftlicher Mensch.« Eine vielsagende Antwort, wenn man nachhaken würde. »Wie geht’s deiner Mutter und Schwester? Violet muss inzwischen das College beendet haben.«

Ich hatte mich vor der Frage gefürchtet. Selbst nach so vielen Jahren saß der Verlust der beiden immer noch tief. »Sie sind vor vierzehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Violet war gerade elf geworden.« Bei meinem Bericht fasste ich mich kurz. Ein regnerischer Freitagabend. Ein betrunkener Fahrer, der ein Stoppschild übersah. Ein Zusammenstoß, bei dem sie beide sofort tot waren. »O Claire«, hatte Petra gesagt. Sie hatte keine Plattitüden von sich gegeben oder mich gezwungen, Details zu offenbaren. Sie saß einfach bei mir und hüllte meine Trauer in Schweigen, denn sie wusste, dass Worte den Schmerz nicht lindern konnten. Wir machten es uns zur Gewohnheit, uns jeden Tag nach dem Training in der Sauna zu treffen. Petra hatte Verständnis dafür, dass wir wegen ihrer Familie nicht in der Öffentlichkeit miteinander sprechen konnten. Selbst bevor wir wussten, was ich schließlich tun würde, waren wir vorsichtig, telefonierten selten und schickten uns auch keine E-Mails. Aber in der Sauna erneuerten wir unsere Freundschaft, bauten das gegenseitige Vertrauen wieder auf, das wir früher gehabt hatten, erinnerten uns an unser Bündnis, das uns beiden geholfen hatte, die Highschool zu überstehen. Es dauerte nicht lange, bis Petra klar war, was ich verbarg. »Du musst ihn verlassen«, sagte sie eines Nachmittags, einige Monate nachdem wir uns wiedergetroffen hatten. Sie sah einen Bluterguss an meinem Oberarm, Überbleibsel eines Streits, den ich zwei Abende zuvor mit Rory gehabt hatte. Obwohl ich mich bemüht hatte, das Offenkundige zu verbergen – ein Handtuch um den Oberkörper höher gezogen, um den Hals gehängt oder über die Schulter drapiert –, hatte Petra stillschweigend die Zunahme der Spuren von Rorys Wut auf meiner Haut verfolgt. »Das ist nicht der erste, den ich bei dir gesehen habe«.

 

Ich bedeckte den Bluterguss mit dem Handtuch, weil ich ihr Mitleid nicht wollte. »Ich hab es einmal versucht. Vor ungefähr fünf Jahren.« Ich hatte gedacht, es wäre möglich, mich scheiden zu lassen. Ich hatte mich auf einen Streit eingestellt, wusste, dass es schmutzig und teuer werden würde, aber ich wollte seine Misshandlung als Druckmittel benutzen. Gib mir, was ich will, und ich werde niemandem verraten, was für eine Sorte Mann du bist. Aber das war vollkommen schiefgegangen. »Es stellte sich heraus, dass die Frau, der ich vertraut hatte, die versucht hatte, mir zu helfen, mit einem alten Verbindungsbruder von Rory verheiratet war. Und als Rory auftauchte, öffnete ihr Mann ihm die Tür und ließ ihn herein. Er verbrüderte sich sofort wieder mit Rory, mit heimlichem Handschlag und allem. Rory erzählte ihnen, dass ich mit Depressionen zu kämpfen habe, bei einem Psychiater in Behandlung sei und dass vielleicht eine stationäre Behandlung das Beste wäre.« »Du meinst, er wollte dich einweisen lassen?« »Er hat mir zu verstehen gegeben, dass es für mich noch viel schlimmer kommen könnte.« Den Rest erzählte ich Petra nicht. Dass er mich zu Hause so heftig gegen den Marmortresen in der Küche gestoßen hatte, dass ich mir zwei Rippen brach. Dein Egoismus erstaunt mich. Dass du bereit bist, alles zu zerstören, was ich mit harter Arbeit aufgebaut habe – das Erbe meiner Mutter –, weil wir uns streiten. Alle Paare streiten sich, Claire. Er hatte mit einer ausladenden Handbewegung auf den Raum gedeutet, die hochwertigen Geräte, die teuren Arbeitsplatten.

Sieh dich um. Wie könntest du dir mehr wünschen? Du wirst niemandem leidtun. Niemand wird dir überhaupt glauben. Das stimmte. Die Menschen wollten, dass Rory dem Bild entsprach, das sie von ihm hatten – der charismatische einzige Sohn der fortschrittlichen, geliebten Senatorin Marjorie Cook. Ich könnte niemals jemandem erzählen, was er mir antat, denn egal, was ich sagen würde, meine Worte würden unter der Liebe begraben werden, die die Menschen Marjorie Cooks einzigem Kind entgegenbrachten. »Die Leute werden mir niemals glauben«, sagte ich schließlich. »Denkst du das wirklich?« »Glaubst du, man wäre Carolyn Bessette zu Hilfe geeilt, wenn sie gesagt hätte, dass JFK junior sie schlägt?« Petra machte große Augen. »Machst du Witze? Wir sind in der #MeToo-Ära. Ich glaube, die Leute würden sich vor Begeisterung überschlagen. Es würde wahrscheinlich Extrasendungen bei Fox und CNN geben, um darüber zu reden.« Ich lachte bitter. »In einer idealen Welt würde ich Rory zur Verantwortung ziehen. Aber ich habe nicht die Kraft, einen solchen Kampf aufzunehmen. Einen, der Jahre dauern, in jede Ecke meines Lebens dringen und alles Gute, was vielleicht hinterherkommt, trüben würde. Ich will davon frei sein. Frei von ihm.« Gegen Rory auszusagen wäre wie in einen Abgrund zu springen und darauf zu vertrauen, dass ich von der Großzügigkeit und Liebe anderer aufgefangen werde. Ich hatte schon zu viel Zeit in der Gegenwart von Menschen verbracht, die zusahen, wie ich mich im freien Fall befand, nur um in Rorys Nähe zu sein.

In dieser Welt waren Geld und Macht gleichbedeutend mit Immunität. Ich holte tief Luft und spürte, wie die Hitze in jede Faser meines Körpers drang. »Wenn ich ihn verlasse, müsste ich es so machen, dass er mich niemals findet. Denk daran, was mit Maggie Moretti passiert ist.« Ich sah, dass Petras Blick eindringlicher wurde. »Denkst du, er hatte etwas damit zu tun?« »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, antwortete ich. Im Verlauf des nächsten Jahres schmiedeten Petra und ich einen Plan, choreografierten mein Verschwinden genauer als ein Ballett. Eine Folge von Ereignissen, so perfekt geplant, dass nichts schiefgehen konnte. Und jetzt bin ich hier, nur Stunden von der Durchführung entfernt. Hitze erfüllt die Luft, Petra sitzt auf der Zedernholzbank neben mir. »Hast du heute Morgen alles abgeschickt?«, frage ich sie. »Über FedEx, an dich adressiert, mit dem Vermerk ›persönlich‹. Es sollte gleich morgen früh im Hotel ankommen.« Ich konnte nicht riskieren, alles, was ich angesammelt hatte, im Haus zu verstecken, wo jeder – die Mädchen oder, schlimmer noch, Danielle – es finden könnte. Also bewahrte Petra alles für mich auf – vierzigtausend Dollar von Rorys Geld sowie eine brandneue Identität dank Nico. »Wegen der neuen technischen Anforderungen an diese Papiere ist es schwerer geworden, sie nachzumachen«, hatte er an dem Nachmittag gesagt, als ich zu ihm rausgefahren war.

Wir saßen am Esstisch in seinem großen Haus auf Long Island. Aus ihm war ein gut aussehender Mann mit einer Ehefrau und drei Kindern geworden. Und mit Leibwächtern – zwei am Tor zur Auffahrt und zwei an der Haustür. Mir kam der Gedanke, dass Rory und Nico gar nicht so verschieden waren. Auch er war der auserwählte Sohn und stand unter dem Druck, die Familie ins 21. Jahrhundert zu führen, mit neuen Regeln und Vorschriften. Von beiden wurde erwartet, mehr zu erreichen als die vorige Generation – oder zumindest nicht alles zu verlieren. Nico schob mir einen dicken Umschlag zu. Ich öffnete ihn und zog einen in Michigan ausgestellten Führerschein sowie einen Pass mit meinem Bild heraus, der auf den Namen Amanda Burns ausgestellt war. Ich überflog den Rest – eine Sozialversicherungskarte, eine Geburtsurkunde und eine Kreditkarte. »Damit kannst du alles machen«, sagte Nico, nahm den Führerschein und hielt ihn schräg unter die Lampe, damit ich das Hologramm sehen konnte. »Wählen. Eine Lohn- und Steuererklärung abgeben. Das ist Spitzenarbeit, und mein Mann ist der Beste. Es gibt nur einen anderen, der das ganze Paket so gut hinbekommt, und der lebt in Miami.« Nico gab mir die Kreditkarte – für ein Konto bei der Citibank unter meinem neuen Namen. »Petra hat es letzte Woche eröffnet, und die Kontoauszüge werden an ihre Adresse geschickt. Wenn du dich irgendwo niedergelassen hast, kannst du das ändern. Oder die Karte wegwerfen und ein neues Konto eröffnen. Aber sei vorsichtig. Lass dir nicht deine Identität klauen.« Er lachte über seinen Witz, und ich sah kurz den Jungen von früher in seinem Gesicht aufblitzen, der immer beim Lunch neben mir und Petra gesessen und sein Sandwich gegessen hatte, während er seine Mathematik-Hausaufgaben machte.

Die Last der Erwartungen schwebte bereits über ihm. »Danke, Nico.« Ich gab ihm den Umschlag mit zehntausend Dollar, einem kleinen Teil des Geldes, das ich in den letzten sechs Monaten abgezweigt und gehortet hatte. Hundert Dollar hier. Hundert Dollar da. Das Geld steckte ich täglich in Petras Schrank im Fitnessstudio, wo sie es verwahrte, bis ich so weit war. Seine Miene wurde ernst. »Eines musst du wissen: Wenn etwas schiefgeht, kann ich dir nicht helfen. Petra auch nicht. Dein Mann hat Möglichkeiten und Mittel, die mich, meine Existenz – und die von Petra – in Gefahr bringen können.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Du hast mehr als genug getan, und ich bin dir dankbar.« »Ich meine es ernst. Es bedarf nur einer winzigen Verbindung zwischen deinem neuen und deinem alten Leben, und alles fällt in sich zusammen.« Seine dunklen Augen fixierten meine. »Du kannst nicht zurück. Kein einziges Mal. Unter keinen Umständen.« »Das Flugzeug soll nach Rorys Plan ungefähr um zehn starten«, sage ich jetzt zu Petra. »Hast du daran gedacht, meinen Brief beizufügen? Ich will ihn nicht, zehn Minuten bevor ich abfahre, auf Hotelpapier noch einmal schreiben müssen.« Petra nickt. »Mit im Umschlag. Adressiert und frankiert, fertig zum Abschicken von Detroit aus. Was hast du geschrieben?« Ich denke an die Stunden, die ich bei dem Versuch verbracht habe, einen Brief zu schreiben, der jede Möglichkeit, dass Rory versuchen könnte, mir zu folgen, ausschloss.

»Ich hab ihm geschrieben, dass ich ihn verlasse und dass er mich diesmal nicht finden wird. Dass er unsere Trennung bekannt geben und sagen soll, dass sie einvernehmlich ist. Und dass ich keine öffentliche Erklärung dazu abgeben werde.« »Eine Woche bevor er seine Kandidatur für den Senat bekannt gibt.« Ich grinse sie an. »Hätte ich bis hinterher warten sollen?« Sobald ich genug Geld zusammen hatte, um ein neues Leben anzufangen, begann ich, nach einer perfekten Gelegenheit zu suchen, um zu gehen. Ich studierte unseren Google-Kalender auf der Suche nach einer Reise, die ich alleine machen würde, wobei ich mich auf Städte nahe der kanadischen oder mexikanischen Grenze konzentrierte. Die Detroit-Reise war perfekt dafür. Ich soll Citizens of the World besuchen, eine Charterschool, die sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahne geschrieben hat und von der Cook Familienstiftung finanziert wird. Einem Nachmittagsbesuch in der Schule soll ein Abendessen mit Spendern folgen. Ich lehne mich gegen die Bank hinter mir, starre an die Decke und gehe den Rest des Plans durch. »Wir landen ungefähr um zwölf. Der Termin in der Schule beginnt um zwei. Ich sorge also dafür, dass wir zuerst ins Hotel fahren, damit ich das Päckchen an mich bringen und irgendwo sicher verwahren kann.« »Ich habe heute bei der Autovermietung angerufen. Sie erwarten eine Amanda Burns, die morgen um Mitternacht einen Kleinwagen abholt. Meinst du, du bekommst ein Taxi?«

»Es gibt ein Hilton ein Stück die Straße runter von meinem Hotel. Ich werde eins von da nehmen.« »Ich mache mir Sorgen, dass dich jemand sieht, wenn du mitten in der Nacht mit einem Koffer das Hotel verlässt. Dir folgt. Rory anruft.« »Ich nehme den Koffer nicht mit. Ich hab mir einen Rucksack gekauft, in den etwas Kleidung zum Wechseln und mein Geld passt. Alles andere lasse ich da – einschließlich Handtasche und Portemonnaie.« Petra nickt. »Ich habe mit der Kreditkarte ein Zimmer im W Hotel in Toronto gebucht, falls du eins brauchst. Sie erwarten dich.« Ich schließe die Augen, die Hitze macht mich benommen. Oder ist es der Druck, jede Kleinigkeit richtig zu machen? Mir darf nicht der geringste Fehler unterlaufen. Ich spüre, wie die Minuten vergehen. Der Moment rückt näher, an dem ich den ersten Schritt in einer Reihe von Schritten mache, die unwiderruflich sein werden. Ein Teil von mir möchte das Ganze vergessen. Nach Detroit fliegen, die Schule besuchen und nach Hause zurückkehren. Weitere Tage mit Petra in der Sauna. Aber dies ist meine Chance, zu entkommen. Sobald Rory seine Kandidatur für den Senat bekannt gegeben hat, gehen meine Möglichkeiten gegen null. »Es wird Zeit.« Petra spricht leise, und ich öffne wieder die Augen. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sage ich. »Du warst vor vielen Jahren meine einzige Freundin. Du musst mir nicht danken. Ich bin es, die dir zu danken hat«, sagt sie. »Du bist an der Reihe, glücklich zu sein.« Sie wickelt sich das Handtuch fester um den Körper, und ich sehe kurz ihr Lächeln aufblitzen.

Ich kann nicht glauben, dass wir das letzte Mal hier sitzen. Das letzte Mal, dass wir uns unterhalten. Dieser Raum war wie ein Zufluchtsort, dunkel und still, nur unser Flüstern, wenn wir meine Flucht planten. Wer wird morgen hier mit ihr sitzen? Oder übermorgen? Ich spüre die Endgültigkeit meiner Abreise bedrohlich näher rücken. Ich denke daran, wie absolut das Ende sein wird, und frage mich, ob es das wert ist. Ob es besser sein wird. Bald wird Claire Cook aufhören zu existieren, wird ihre glänzende Fassade abwerfen. Ich habe keine Ahnung, was ich darunter finde. Noch dreiunddreißig Stunden, bis ich weg bin.

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