Ein dunkler Abgrund

 

                                                

  

Der neue geniale Thriller der Bestsellerautoren: Tess ist sicher, dass ihre kleine Tochter ein schreckliches Verbrechen beobachtet hat. Doch wer glaubt schon einem Kind …

Ihre dreijährige Tochter ist für Tess das Wichtigste auf der Welt. Doch seit der Trennung von Poppys Vater kann sie nicht mehr ständig in ihrer Nähe sein, um auf sie achtzugeben. Als sie eines Tages unter all den bunten, fröhlichen Kinderzeichnungen ein Bild aus schwarzer Kreide findet – eine Zeichnung so simpel und brutal, dass Tess sie nicht verstehen kann – da ist sie sicher, dass Poppy während des Wochenendes beim Vater etwas Furchtbares mitansehen musste. Niemand will ihr glauben, denn handelt es sich nicht bloß um die Krakelei eines Kindes? Doch eine Mutter kennt ihre Tochter. Und Tess wird die Wahrheit herausfinden. Ihre Suche führt sie in ungeahnte dunkle Abgründe, und bald ist nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr, sondern auch das ihres Kindes …

 

Tess hat sich von ihrem Ex Jason getrennt mit der Vereinbarung immer das Beste für Poppy zu geben auch weiterhin. Beide haben Mittlerweile auch einen neuen Partner Jason lebt mit seiner viel Jüngeren Freundin im alten Zuhause und auch Tess hat einen neuen Freund den netten Aiden.

Nach einem Wochenende findet Tess ein Bild das Poppy gemalt hat und dieses Bild ist Erschreckend für Tess. Auf dem Bild ist eine Schwarze Frau zu sehen die aus einem Turm fällt und das alles wurde in Schwarz gemalt. Auch nach weitern Wochenenden bei Jason und seiner neuen Frau Emily kommt Poppy verstört nach Hause sie ist Agressiv malt weiterhin verstöhrende Bilder und auch fängt sie an Schimpfattacken zu bekommen und dann ist sie wieder zurückgezogen und Ängstlich.

Tess befürchtet sofort das schlimmste und vermutet das Poppy Missbraucht wird von ihrem Vater. Ohne weiter nachzufragen geht sie auch zur Polizei und will eine Anzeige erstatten.

Die Polizei kann natürlich erstmal nichts ausrichten und so steigert sich Tess komplett in die Sache rein. Sie misstraut nun jedem und sieht sogar schon einen Mord in den Zeichnungen von Poppy.

Sie fängt an nach Mordopfern in London zu suchen die auf die Zeichnungen passen.

Was findet Tess dabei raus? Was hat Poppy damit zutun? Ist Jason ein Mörder oder Emily? Ist der Solide Aiden gar nicht so Solide? Fragen über Fragen.

Das Buch ist einem typischen Nicci French Style geschrieben und auch Spannend aufgebaut. Einige stellen sind etwas Langgezogen aber das war es dann auch schon. 

Die Charaktere sind mal sympathisch und dann mal wieder unsympathisch beschrieben eben genau so wie man es aus dem realen Leben auch kennt.

 

Leseprobe

1

E s heißt, man kann im Traum nicht sterben, aber gestern Nacht kam es mir doch so vor. Ich stürzte in die Tiefe, so wie sie, und erst kurz bevor ich auf dem Asphalt aufschlug – dunkel rauschte er mir entgegen –, wachte ich auf, keuchend und schweißgebadet. Ich hatte es nicht überstanden. Es ging wieder los. Ich versuchte, ans Meer zu denken, ruhiges Wasser, blauen Himmel, einen Wald, wo der Wind sanft durchs Laub strich. Es funktionierte nicht. Ich war wach, aber gleichzeitig noch in meinem Traum. Ich war wieder da, wo alles anfing. Ich saß in einem Café am Fenster, nicht weit vom Broadway Market. Da ich früh dran war, sah ich Jason und Poppy, bevor sie mich sahen. Einen kurzen Moment schien es mir, als hätte sich nichts verändert. Poppy ritt auf Jasons Schultern, hielt sich dabei an seinen Ohren fest und riss vor Vergnügen den Mund auf, während ihr prächtiges rotes Haar wie eine Fahne im leichten Wind wehte: der Vater mit seiner kleinen Tochter, auf dem Weg zur wartenden Mutter. Obwohl ich direkt von Aidan kam und mich an diesem wunderbar warmen Maitag nach meinem Fußmarsch zum Café so richtig lebendig fühlte, erfüllt von Hoffnung, Begehren, Erregung und der freudigen Ahnung, dass das Leben gerade neu anfing, empfand ich in dem Moment einen Anflug von Traurigkeit. Poppy war so klein, so verletzlich und vertrauensvoll. Und wir beide, Jason und ich, hatten ihr das angetan – ihre Welt entzweigerissen.

Doch gemeinsam würden wir dafür sorgen, dass alles wieder besser wurde. Ich beobachtete, wie sie näher kamen. Jason hielt Poppy an den Beinen fest, damit sie sicher saß, und machte den Eindruck, als würde er singen. Er besaß eine schöne Stimme. Unter der Dusche hatte er immer laut gesungen. Wahrscheinlich tat er das nach wie vor. Als sie am Fenster vorbeigingen und er mich entdeckte, bedachte er mich mit jenem vertrauten, komischen halben Lächeln, als gäbe es zwischen uns einen privaten Scherz, den nur wir beide verstanden, wie damals in unserer Anfangszeit. Er stellte Poppys kleine Tasche für die Übernachtung auf den Gehsteig, damit er sie hochstemmen und anschließend auf dem Boden absetzen konnte. Poppy deutete aufgeregt in meine Richtung und presste dann das Gesicht gegen die Scheibe, sodass ihre Nase platt gedrückt wurde und ihr Atem das Glas beschlagen ließ. »Mummy«, sagte sie lautlos. Ich stand auf und ging ihr entgegen. An der Tür nahm ich sie in den Arm, und sie schmiegte das Gesicht an meine Schulter. Sie roch nach Sägemehl und Baumharz. Ich war davon ausgegangen, dass Jason gleich wieder aufbrechen würde, doch er bestellte Kaffee für sich und heiße Schokolade für Poppy, und wir ließen uns alle drei am Tisch nieder. Während Poppy sich auf meinen Schoß kuschelte, betrachtete ich Jason mit leichtem Unbehagen. Ich war immer sehr darauf bedacht, jegliches Wetteifern um ihre Zuneigung zu vermeiden. Aber er lächelte nur. Jason sah nach wie vor gut aus, auch wenn sein ordentlich getrimmter Bart erste graue Sprenkel aufwies und seine Figur kompakter wirkte. Inzwischen war er ein erwachsener Mann, Schuldirektor, jemand von Rang und Namen, aber ich konnte noch immer den jungen Mann erkennen, in den ich mich verliebt hatte – und der sich in mich verliebt hatte. Schlagartig erinnerte ich mich sehr lebhaft an jenen ersten Abend vor all den Jahren.

Es war so schnell passiert, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ich der Meinung war, dass ich mich nie wieder mit einem Mann einlassen wollte. Ich hatte gerade eine Trennung hinter mir, die mich unglaublich mitgenommen hatte. Der Freund, mit dem ich sieben Jahre lang zusammen gewesen war – meine erste richtige Liebe –, hatte mich wegen einer engen Freundin von mir verlassen, einem Mädchen, das ich fast schon mein Leben lang kannte. Ich verlor sie beide. Sogar die Vergangenheit, die ich mit ihnen teilte, erschien mir durch ihre Lügen vergiftet. Von mir war nur noch ein verletzliches, wundes, matschiges Häufchen Mensch übrig. Doch an einem Frühlingstag wie diesem, voller Blüten und frischem grünem Laub, hatte mich meine Freundin Gina dazu überredet, mit ihr auf eine Party zu gehen. Sie meinte, das werde mir guttun, und sie akzeptiere kein Nein. Sie wartete neben mir, während ich in ein Kleid schlüpfte, das eher wie ein Sack aussah, rasch durch mein langes, rotes Haar bürstete und mich dann standhaft weigerte, mich zu schminken. Jason war auf der Party, ein großer, schlaksiger Typ mit grauen Augen, einem Grübchen im damals noch bartlosen Kinn und einem ausgewaschenen blauen Baumwollhemd. Ich wusste noch genau, wie er mich angesehen und nicht mehr weggeschaut hatte. Wir kamen ins Gespräch. Wir tanzten miteinander, und ich spürte die Hitze seines Körpers. Plötzlich dachte ich: Also ist mein Leben doch nicht ruiniert. Ich bin immer noch begehrenswert und fähig, jemanden zu begehren. Mein Freund war ein Mistkerl, meine Freundin das Allerletzte, aber ich kann trotzdem noch lachen und tanzen und Sex haben und spüren, wie in mir das Leben pulsiert. Ich kann neu anfangen. Wir waren in eine Kneipe in der Camden High Street gegangen. Ich weiß noch, dass ich einen Tequila trank und mich schummrig fühlte und dass mir durch den Kopf ging, dass ich aufpassen musste und mich nicht zum Narren machen durfte, nicht schon wieder.

Jason legte seine Hand auf meine und eröffnete mir, dass er eine Freundin habe. Es war, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Schlagartig war ich wieder nüchtern. Ich erklärte, dass ich nichts mit jemandem anfangen wolle, der in einer Beziehung sei. Ich wisse, wie es sich anfühle, betrogen zu werden. Jason nickte und küsste mich auf die Wange, allerdings ein bisschen zu nah am Mund. Wir verabschiedeten uns. Ich dachte, ich würde ihn nie wiedersehen. Am nächsten Tag schrieb er mir eine Nachricht. Ich erinnerte mich noch an jedes Wort: Habe mich gerade getrennt. Kein Druck. Würde dich aber gerne sehen. Nun saßen wir hier, Jahre später, mit unserer schönen dreijährigen Tochter, und im Juli würde sich unsere Trennung zum ersten Mal jähren. So viel versprochen, so viel verloren. Eine Scheidung hatte es nicht gegeben, weil wir nie verheiratet waren. Aber wir hatten zusammen ein Kind in die Welt gesetzt und zusammen in einem Haus gewohnt, das Leben miteinander geteilt. Die junge Barfrau mit dem frischen Gesicht brachte uns die Getränke an den Tisch. Die große Tasse heiße Schokolade stellte sie vor Poppy ab. »Ich schätze mal, die ist für dich, junge Dame.« Poppy warf ihr einen finsteren Blick zu, der die Frau sichtlich aus der Fassung brachte. »Sie ist ein bisschen müde«, erklärte Jason. »Ich bin nicht müde!«, widersprach Poppy entschieden, wirkte dabei aber auf diese typische Art hibbelig. Da braute sich etwas zusammen. Die Frau zog die Augenbrauen hoch und entfernte sich. »Wie war euer Wochenende?«, fragte ich. Jason sah Poppy an. »Wie war es, Poppy?« »Es hat regnet.« »Nicht die ganze Zeit.

»Es hat regnet, regnet, regnet!« »Ich weiß, Liebes. Du und ich und Emily haben Spiele gespielt. Und du hast Bilder gemalt und mit Emily gekocht.« Emily war Jasons Frau, seine Ehefrau. Dieses Mal hatte er geheiratet. Poppy war auf der Hochzeit gewesen. Ich hatte ihr ein gelbes Kleid genäht und ihr am Vorabend die Haare gewaschen. Später sah ich dann das Foto von den dreien, eine komplette neue Familie, ohne mich. »Das hört sich doch gut an.« Ich bemühte mich zu klingen, als meinte ich es wirklich so. Was ich ja auch tat, zumindest redete ich mir das ein. Wie könnte ich nicht wollen, dass Poppy Spaß hatte? Ich sah meinen Ex-Partner an. »Danke, Jason.« Jason lächelte wieder sein kleines, verschwörerisches Lächeln, mit dem er mich einlud, seine Komplizin zu sein: Er und ich gegen den Rest der Welt. So war er immer gewesen. »Wir machen das recht gut, oder?« »Was meinst du?« »Uns beide.« Er deutete auf Poppy, die ihre Tasse heiße Schokolade gefährlich schief hielt. »Viele vermasseln es. Sie wenden sich gegeneinander. Das haben wir nicht getan.« Mein Blick wanderte zu Poppy. Ihr Mund war schokoladeverschmiert, und sie blies gerade vorsichtig in ihr Getränk. Oft schien sie ganz in ihre eigene Welt versunken zu sein, ohne da[1]rauf zu achten, was um sie herum geschah, doch in Wirklichkeit war sie ein menschlicher Schwamm, der alles aufsaugte. Man wusste nie so genau, was sie sah, hörte, mitbekam. »Nein, haben wir nicht.« »Und werden wir auch nicht.« Als wir damals beschlossen hatten, uns zu trennen, legten wir Grundregeln fest: Nie wollten wir vor Poppy streiten. Nie um sie wetteifern. Nie versuchen, ihre Zuneigung mit Sonderbehandlungen und Spielsachen zu erkaufen. Nie inkonsequent sein, was ihr Verhalten oder den Ablauf ihrer Tage betraf.

Nie irgendwelche Meinungsverschiedenheiten in unsere Beziehung zu ihr einfließen lassen. Nie den anderen ihr gegenüber kritisieren. Im Hinblick auf ihre Erziehung immer zusammenarbeiten. Stets davon ausgehen, dass ihr Wohlergehen unser oberstes Ziel war, und einander als Eltern vertrauen. Und so weiter. Es gab eine ganze Litanei solcher Regeln, sie ergaben fast so etwas wie ein Selbsthilfebuch. Jason schrieb sie alle auf und mailte sie mir, als handelte es sich dabei um einen Vertrag. Und im Großen und Ganzen hielten wir uns auch daran. Ich betrachtete den Mann, der der Vater meines Kindes war. Er hatte sich nie gerne Kleidung gekauft, sondern das lieber mir überlassen. Die Jacke, die er trug, hatte ich ihm vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt. Das gemusterte Hemd stammte aber nicht von mir. Ich war auch nicht dabei gewesen, als er das Paar weiche Lederschuhe aussuchte. Nachdenklich faltete ich eine Papierserviette auseinander und wischte damit Poppys Schokoladenmund sauber. »Sollen wir langsam los, Schätzchen?« Nachdem wir alle vom Tisch aufgestanden waren, beugte er sich zu mir herüber, fast, als wollte er mich küssen, doch stattdessen flüsterte er mir etwas ins Ohr. »Was?« »Alles wird gut.« »Was?«, fragte Poppy. »Wir verabschieden uns bloß«, erklärte Jason. Der gemeinschaftlich genutzte Flur vor meiner Wohnung lag immer voller Werbesendungen. Außerdem hatte Bernie, der oben wohnte, sein Rad dort stehen. Als ich die Tür öffnete, hob er es gerade von seiner Halterung. »Tess!«, begrüßte er mich, als wäre ich monatelang weg gewesen. »Und Poppy!« Mit besorgter Miene beugte er sich vor. »Ist alles in Ordnung?«

Er war etwa in meinem Alter, Mitte dreißig, ein dünner Mann mit schlammbraunen Augen, braunem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, und einem flaumigen braunen Bart. An der linken Hand fehlten ihm die vorderen Glieder zweier Finger, was Poppy immer wieder faszinierend fand. Er hatte die Angewohnheit, einem grundsätzlich ein wenig zu nah auf die Pelle zu rücken. Als er sich nun zu Poppy hinunterbeugte, trat sie einen Schritt zurück und starrte ihn mit großen, runden Augen an. »Sie ist müde«, erklärte ich, während ich mit der Fußspitze durch die über den Boden verteilte Post fuhr. Ein paar der Umschläge waren an mich adressiert: weitere Rechnungen. »Wenn ich was tun kann…« Ich murmelte etwas, von dem ich hoffte, dass es zugleich höflich und entmutigend klang. Vor der Wohnungstür wartete unsere Katze. Als ich bei Jason ausgezogen war, hatte ich Sunny mitgenommen, außerdem meine Nähmaschine und mein Werkzeug, sonst so gut wie nichts: keine Bilder, keine Möbel, auch nicht die bunt zusammengewürfelten Teller und Gläser, die Weihnachtsdekoration und all die anderen Dinge, die wir im Lauf der Jahre gemeinsam ausgesucht hatten und die mich bloß an die anfängliche Zeit des Glücks erinnert hätten – und daran, wie es uns langsam entglitten war. Unter all das musste ich einen Schlussstrich ziehen, doch Sunny hätte ich nicht bei Jason und Emily in Brixton zurücklassen können, obwohl er schon als kleiner Kater in dem Haus gelebt hatte. Er war mein Gefährte, wenn auch inzwischen alt, fett und struppig, mit ausgeblichenem orange[1]rotem Fell, missbilligenden grünen Augen, hinkendem Gang und einem ausgefransten Ohr. Poppy hievte Sunny hoch, wobei seine herabbaumelnden Beine ein wenig ungut zwischen ihren Armen hingen, und schleppte ihn in ihr Zimmer. Es war der erste Raum, den ich hergerichtet hatte, als wir hergezogen waren.

Ich hatte Regalböden montiert, die himmelblauen Vorhänge genäht, das Bett zusammengebaut und dafür Bettwäsche, bunte Tagesdecken und den kleinen Korbstuhl gekauft. Poppy hatte mir geholfen, die Wandfarben auszusuchen, und als ich sie dann mit der Rolle auftrug, stand sie neben mir und malte mit dem Pinsel, den ich für sie besorgt hatte, kleine saubere Striche. Ich packte Poppys Tasche aus, stopfte die Latzhose in eine Schublade und warf die getragenen T-Shirts, Slips und Socken in eine Ecke, um sie nachher in die Wäsche zu geben. Den knautschigen Teddy mit den Knopfaugen und die schon etwas schäbige Lumpenpuppe Milly mit dem roten Plüschrock und den Haaren aus orangeroter Wolle legte ich ins Bett, wo ich sie gemäß Poppys strengen Anweisungen bis zum Bauch zudeckte. Poppy ging nicht ins Bett, wenn die beiden nicht links und rechts von ihr lagen. Anschließend stellte ich Poppys Lieblingsbilderbücher zurück in ihr kleines Bücherregal und legte das Mäppchen mit ihren Stiften und Malkreiden auf den Schreibtisch. Ganz unten in der Tasche lag ein Stapel Blätter mit Poppys Bildern vom Wochenende. Ich ließ mich auf dem Bett nieder. »Zeigst du mir deine Zeichnungen?« Poppy setzte sich neben mich. Die Katze glitt von ihrem Schoß. Ich blickte auf die kleine Gestalt hinunter: helle Haut, dunkle Augen, richtig rotes Haar, intensiver rot als meines. Ein wildes, forderndes, fröhliches kleines Mädchen, das noch nicht begriff, was in ihrem Leben passierte. Bei dem Gedanken spürte ich ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust. Das erste Bild bestand aus einem weit oben aufgetragenen Fleck aus leuchtendem Orange, unter dem sich Streifen aus blauen Tupfen reihten. »Ist das die Sonne?« »Es hat regnet«, antwortete Poppy.

»Ein schönes Bild.« Als Nächstes folgte eine Kreatur, bei der es sich wohl um einen Löwen oder ein Pferd handelte, dann eine Prinzessin, ein Haus, alles in Gelb-, Rot- und Blautönen. »Die sind großartig. Ich werde mir eins aussuchen und übers Bett hängen, damit ich es immer anschauen und an dich denken kann.« Poppy schien das nicht zu beeindrucken. Ich legte das Blatt mit dem bunten Haus zur Seite und kam zum letzten Bild. Es war so anders, dass ich mich einen Moment fragte, ob da irgendein Versehen vorlag und die Zeichnung von jemand anderem stammte. Sie war ausschließlich mit schwarzer Kreide angefertigt und wirkte schlicht, elementar, brutal. Man erkannte ein Gebäude, das wie ein Turm aussah, vielleicht ein Leuchtturm, und dicht neben dem oberen Teil des Turms – wenn es denn einer war – eine von Poppys dreieckigen Gestalten, mit Armen und Beinen, die wie zornige Stöckchen von ihr abstanden, und einem dichten Wirrwarr aus Schwarz um den Kopf. Die Figur war schräg eingezeichnet, mit dem Kopf nach unten. »Ist das ein Turm?« »Ja, ein Turm.« Ich war mir nicht sicher, ob Poppy nicht nur wiederholte, was ich gesagt hatte. Ich deutete auf die Figur. »Wer ist das?« Poppy legte einen Finger auf den Kopf mit dem schwarzen Wirrwarr rundherum. »Ich hab ihre Haare malt.« »Gemalt«, verbesserte ich leise. »Aber wer ist das? Ein Engel? Eine Fee?« »Eine Fee, eine gute Fee!« »Kann sie fliegen?« »Nein.

»Ist es eine Geschichte? Ein Märchen?« »Sie war im Turm.« »Wie Rapunzel?« »Sie«, sagte Poppy und deutete auf die gezeichnete Figur. »Nein, ich meine, ist das jemand in einer Geschichte?« »Er hat sie tot macht.« »Was?« »Tot macht, tot macht!« »Schatz, was sagst du da? Wer?« Aber nun war Poppy verwirrt und erklärte, sie habe Hunger. Dann verkündete sie plötzlich, sie wäre lieber eine Katze gewesen, und fing zu weinen an. Ich legte die Bilder auf den Schreibtisch. Nur das eine, mit schwarzer Kreide gezeichnete, nahm ich mit.

 

 

 

 

 

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