Westwall
 
 
 
Scheinbar zufällig lernt Polizeischülerin Julia den attraktiven Nick kennen. Doch nach der ersten gemeinsamen Nacht entdeckt sie, dass er ihr einen falschen Namen genannt hat und ein riesiges Hakenkreuz-Tattoo auf dem Rücken trägt. Julia ist geschockt – warum hat Nick sie angelogen? Mit einem Mal gerät ihr Leben in einen alptraumhaften Strudel, der droht, ihr alles zu nehmen, was ihr lieb ist. Die Suche nach der Wahrheit führt Julia in die menschenleeren Wälder der Eifel bis hin zum Westwall, einem alten Verteidigungssystem aus dem Zweiten Weltkrieg. Und damit zurück in ihre eigene Vergangenheit ...
 
Mit seinem Debüt »Westwall« beweist Benedikt Gollhardt auf überzeugende und mitreißende Weise, dass ein Thriller erschreckend aktuell und gleichzeitig hochspannend sein kann.
 
 
Ich weiß gar nicht wo ich Anfangen soll,so begeistert hat mich das Buch.
 
 
Das ist ein Buch nach meinem Geschmack.
 
 
Julia ist mit ihrem Vater unter Aussteigern aufgewachsen ohne ihre Mutter,wo ihre Mutter ist und warum sie nicht bei der Familie geblieben ist das Weiß Julia alles gar nicht.
Auch nach Nachfragen bei dem Vater erfährt sie nichts über ihre Mutter.
 
Der Vater kann auch mit der Entscheidung von Julia nicht umgehen das sie Polizistin werden möchte.
 
Trotz alle dem zieht der Pflegebedürftige Vater nach einem Mysteriösem Unfall doch nach Julia nach Köln um in ihrer nähe zu sein.
 
Dann eines Abends lernt sie Nick kennen,er ist Lustig und nett und Julia findet ihn sehr attraktiv.
Julia hat auch das Gefühl das er in allem was er sagte die wahrheit sagte.
 
Als die beiden dann im Bett landen entdeckt Julia ein riesen Hakenkreuz auf dem Rücken von Nick was von Schulterblatt zu Schulterblatt geht.
Sie bekommt Panik und wirft Nick Raus.
 
Was alles hinter der Begegnung mit Nick steckt das müsst ihr selber raus finden.
War es Zufall oder war es geplant? Wer steckt wen es geplant war dahinter?
 
Im laufe der Geschichte kommen immer mehr Sachen zum Vorschein die man so nicht erwartet.
 
Viele Nazis, der Verfassungsschutz,Polizisten,verwahrloste Jugendliche und einige Schauplätze aus vergangen Tagen.
 
Eine Wichtige Rolle spielen auch die Wälder in der Eifel,wodurch auch der Name Westwall entstanden ist.
Im Buch ist auch ein Kartenausschnitt des Ortes abgebildet wo die Handlung spielt.
 
 
 
Es ist am Anfang ein Langsamer beginn der Geschichte aber ehe man sich versieht ist man in einer Spannenden Geschichte drinnen was einen so fesselnd das man die Zeit um sich vergisst.
 
Es gibt viele Wendungen im Buch die man so nicht erwartet hat,einige konnte man schon erahnen aber einige waren echt überraschend. Die man so auch nicht erwartet hätte. Und man merkt schnell traue keinem.
 
Ja Warum sollte man keinem trauen? Es gibt Charaktere im Buch wo man denkt ja der Person kann man trauen wird aber dann doch eines besseren belehrt.
 
Es gibt Charaktere mit Doppelleben,falschen Identitäten und vielen Geheimnissen was selbst für mich als Leserin teilweise echt überraschend kommt,weil man doch die Personen erst falsch eingeordnet hat.
 
 
Alle Handelnden Personen sind sehr gut geschrieben und das Handeln ist auch logisch beschrieben,zumindest für die Person die sie da stellt. Wo man echt merkt das super recherchiert wurde.
 
Jedes Kapitel hat einen Cliffhanger was einen eigentlich unmöglich macht das Buch an die Seite zu legen da man ja wissen will wie es nun weiter geht.
 
Ich hätte nicht Gedacht das mich ein Thriller mit einem doch stark Politischem Hintergrund so fesseln würde.
 
 
Außerdem ist im Buch ein Interview von dem Schriftsteller Benedikt Gollhardt.
 
Hinten auf den letzten Seiten gibt es noch einige Informationen zu dem Wetswall und der Chronik zu dem geschehen im Weltkrieg.
 
 
Leseprobe
 
PROLOG
 
Die alte Angst. Sie konnte sie wieder spüren. Julia blieb stehen, ihr Atem ging in schnellen Stößen. Durch die Baumkronen der mächtigen Buchen drangen nur wenige Sonnenstrahlen, am Boden lagen morsche Stämme zwischen üppigen Farnen, es roch nach Erde und Laub. Der Wald schien verwunschen, als wäre er noch nie von einem Menschenfuß betreten worden. Doch Julia wusste, dass es anders war. Sie waren hier gewesen, viele von ihnen, und sie hatten eine mächtige, düstere Spur hinterlassen: Hunderte hüfthohe Pyramiden aus verwittertem Beton ragten aus dem Waldboden wie Rückenstacheln eines riesigen Drachen, der eingegraben unter der Erde schlief. Die bemoosten Buckel standen in mehreren Reihen und schlugen eine unheimliche Schneise quer durch den Wald, eine trotzige Grenze aus einer dunklen Vergangenheit, ein machtvolles Bollwerk, das sogar Panzern standhalten konnte. Von weit her schallten Hundegebell und triumphierende Rufe durch den Wald. Julia erschauerte: Sie haben ihn. Auf einmal wusste sie, woher sie die Angst kannte. Es war die Angst ihres Vaters. Wolfgang hatte immer versucht, sie vor ihr zu verbergen, damals, in ihrem Bauwagen am See.
 
Er hatte versucht, sie wegzulachen und wegzulügen, er war mit seiner Tochter geflohen, das ahnte sie jetzt, um es für immer von ihr fernzuhalten – das Böse. Sie hatte es schon als Kind gespürt, aber es war nicht mehr gewesen als ein dunkler Schatten, den ein böser Traum auf das Leben eines kleinen Mädchens warf und der mit den ersten Sonnenstrahlen wieder verblasste. Inzwischen wusste Julia, dass es in der Welt war. Und jetzt war es ganz nah, hier, in diesem Wald. Es hatte über eine lange Zeit geschlafen, war von einer weichen Moosschicht überwuchert worden wie die Reihen der alten Betonbuckel zwischen den riesigen Buchen. Es war erwacht, es wuchs wieder, und es wurde stärker. Und Julia spürte: Das Böse hatte sie im Visier. Plötzlich drang ein heller Schrei durch das Rauschen der Baumkronen. Julia schaute sich um. Die Äste der umgeknickten Stämme schienen ihre knorrigen Finger nach ihr auszustrecken; überall um sie herum, im dunklen Unterholz und im Laub, wisperte, knackte und raschelte es, als wolle der Wald sie jeden Moment packen und mit seinen schartigen Betonzähnen zermalmen. Julia löste sich aus der Angststarre und rannte los, zwischen den bemoosten Drachenzacken hindurch, hinab in eine Senke, tiefer in den Wald, über ausladende Wurzeln und kleine Bäche, dem Gebell entgegen. Sie war nicht weit gelaufen, als sie auf einen riesigen grauen Quader aus grobem Beton stieß, der aus dem Waldboden zu wachsen schien. An den Seiten öffneten sich Schießscharten und eine trichterförmige Geschützöffnung, eine rostige Tür versank halb im Laub. Julia stand vor einem alten, verwitterten Bunker. Vorsichtig kletterte sie auf das flache Dach, legte sich an die hintere Kante und schaute hinunter auf eine kleine Lichtung.
 
Dort unten standen fünf Jugendliche im Alter von zwölf bis neunzehn Jahren, drei Jungen und zwei Mädchen. Sie hatten sich im Halbkreis um einen zitternden Teenager mit kupferroten Haaren aufgebaut, der sich ängstlich an einen umgestürzten Baum drängte. Er ist so blass wie ein Toter, dachte Julia bang. Die Jugendlichen trugen abgetragene Hosen und Kapuzenjacken in Olivgrün, Grau und Schwarz. Ihre Füße steckten in Springerstiefeln oder alten Wanderschuhen. Der Größte der Meute war der Anführer, ein schütterer Schnurrbart verdeckte nur spärlich die Narbe seiner Hasenscharte, seine eng beieinanderliegenden Augen musterten unruhig das Opfer. An seinem rechten Mittelfinger erkannte Julia den Ring – eine einfache Spirale aus Eisendraht, die sich wie ein Schneckenhaus spitz nach oben wand. Über seinem Rücken hing eine Armbrust mit Zielfernrohr und einem gefiederten Pfeil im Lauf. Neben dem Großen stand ein gedrungener Jugendlicher mit pickelrotem Gesicht und grinste, seine Schneidezähne waren abgebrochen. In beiden Händen hielt er eine geflochtene Lederleine, an der zwei graue Mastinos zerrten und bellend und geifernd nach dem Rothaarigen schnappten. Eine muskulöse Sechzehnjährige mit tätowierten Armen und Händen zündete sich im Hintergrund eine Zigarette an. Der Anführer packte das Opfer grob am Kragen. »Weißt du nicht, wie groß der Wald ist, du Idiot? Hast du echt gedacht, du schaffst es hier raus?« Ein schlaksiges Mädchen mit nachlässig gefärbten blondblauen Haaren grinste. »Lass doch die Hunde los, ein paar Meter schafft der Jonas noch!« Der Rothaarige presste sich fester gegen den umgekippten Baumstamm, die geifernden Hundeschnauzen berührten fast  seine Schuhe.
 
»Wartet. Ich wollte nicht abhauen, bitte … ich wollte …« Er kam nicht weiter. Blitzschnell warf der Große ihn zu Boden und drückte ihn mit beiden Knien tief ins Laub. Dann bog er den linken Arm des Jungen hoch, zog mit militärisch präzisen Griffen ein Seil aus seiner Hosentasche und band das zuckende Handgelenk fest an einen Ast des Baumes. Der Rothaarige schluchzte ins feuchte Laub, Erde und Blätter klebten an seinem Gesicht. Vom Dach des Bunkers aus konnte Julia erkennen, dass an seiner gefesselten Hand der kleine Finger fehlte, der kurze Stumpf war dunkel vernarbt. Das Flehen des Jungen wurde panisch. »Bitte nicht! Ich wollte nur jagen gehen! Ich schwöre!« Der Große mit dem Schnurrbart tastete den Rothaarigen grob ab und zog plötzlich grinsend mehrere ZweihundertEuro-Scheine aus dessen Hosentasche. »Wohl eher shoppen, was?« Die Kids johlten. Das tätowierte Mädchen rief aus dem Hintergrund: »Verdammt, Jonas, du Vollidiot!« Der Anführer packte die Hand des schreienden Gefangenen, spreizte den Mittel- und Ringfinger ab und band beide mit dem restlichen Seil an den Stamm. »Du weißt, wie es läuft. Beim zweiten Mal sind es zwei!«, sagte er, zog ein großes Jagdmesser aus der stählernen Scheide an seinem Gürtel und hielt es dem Kleinsten in der Runde hin, einem Knirps von etwa zwölf Jahren mit schmalen Schultern und strubbeligen, schwarzen Haaren. »Du machst es!« Die Miene des Kleinen versteinerte. Zögernd nahm er das Messer in die Hand, wo es groß wie eine Machete wirkte. Feixende Blicke der anderen. »Erst den Stinkefinger!«, rief der pickelige Junge. »Nein, beide auf einmal!«, tönte das Mädchen mit den blond-blauen Haaren. Der Rothaarige wand sich schluchzend am Boden, doch der Anführer hielt ihn mit eiserner Entschlossenheit fest. Das riesige Messer zitterte in der Hand des Kleinen, seine Augen klebten wie hypnotisiert auf den Fingern am Baumstamm.
 
Das schlaksige Mädchen gab dem Kleinen einen Schlag auf den Hinterkopf. »Na los! Ich will endlich frühstücken!« Der pickelige Junge legte den Kopf schief und grinste. »Hast du gehört? Kiki hat Hunger.« Der Rothaarige schaute den Kleinen flehend an. »Ben  … bitte … Tu’s nicht!« »Schnauze, Jonas!«, schrie der Anführer, wandte sich zu dem Kleinen um und gab ihm eine Ohrfeige. »Und jetzt mach hin, Ben! Hack sie ab!« Der Kleine kämpfte gegen die Tränen und hob langsam das Jagdmesser über seinen Kopf. Die Klinge zitterte. »Hey!« Ben hielt inne und schaute nach oben zu Julia, die sich auf der Bunkerruine aufgerichtet hatte. Die Gruppe erstarrte, der Rothaarige hörte auf zu wimmern. Julia machte einen Satz und landete auf allen vieren im weichen Laub der Lichtung. Die Hunde wichen zurück. Langsam richtete Julia sich auf, jede Faser ihres Körpers war gespannt. Sie blickte in die überraschten Augen der Jugendlichen. Auf einmal schoss ein Gedanke blitzartig in ihren Kopf und breitete sich wie eine elektrisierende, befreiende Infusion in ihren Adern aus: Das Böse ist stark. Was, wenn ich selbst das Böse bin? Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Mit einer schnellen Bewegung schnappte Julia dem Kleinen das Jagdmesser aus der Hand und hielt es für eine Sekunde in die Luft, damit alle ihn sehen konnten, den Ring mit der einfachen, gewundenen Drahtspirale an ihrem Finger. Dann drehte sie sich zu dem gefesselten Rothaarigen um und ließ entschlossen die schwere Klinge niedersausen.
 
 
Kapitel 1
 
Einige Wochen zuvor
 
Julia zog die Krawatte über ihren Kopf und fluchte. Sie hatte sie seit dem ersten Tragen nicht mehr aufgebunden, jetzt war das lose Ende durch den Knoten gerutscht. Ohne Schlips brauchte sie gar nicht erst zum Morgenappell hinunterzugehen, dachte sie, Ausbilder Roosen würde ihr den Kopf abreißen. Die anderen waren längst aus der Umkleide verschwunden, nur Julia stand immer noch in Unterwäsche und Bluse vor der Bank, neben ihr die riesige Sporttasche und ein Rollkoffer, aus denen haufenweise Klamotten quollen. Im Hintergrund rauschte eine Toilettenspülung, wenige Momente später kam Daria herein. Sie war Anfang dreißig, etwas füllig und trug einen dicken Zopf, der genauso tiefschwarz war wie ihre breiten, geschwungenen Augenbrauen. Sie war schon angezogen, schnallte den Gürtel ihrer Hose zu und musterte Julia skeptisch: »Das wird eng, Frollein.« »Ich brauch dich!«, rief Julia. Daria nahm die Krawatte und legte sie um Julias Hals. »In drei Minuten kommt der Alte!« 
»Sag einfach nichts«, entgegnete Julia und durchwühlte hektisch die Sporttasche und den Koffer mit dem blauen Parka, der kurzen Jacke, zwei Cargo- und zwei einfachen Hosen, zwei Pullovern, zwei Unterziehrollis, zwei Krawatten, einem Trainingsanzug, Handschuhen, Schnürstiefeln, Halbschuhen, Sportschuhen, einem Gürtel, einer Mütze, Schulterklappen und der kugelsicheren Weste. Auf dem Rücken der blauen Jacke prangte groß ein reflektierender Aufdruck: POLIZEI. »Hast du das Zeug gebügelt?«, fragte Daria und schlang die Krawatte routiniert zu einem Knoten. »Hab’s versucht«, antwortete Julia, knöpfte mit fahrigen Fingern die Bluse zu und stieg anschließend in ihre weite Cargo-Hose. »Sieht man, dass ich sie abgenäht hab?« »An dir sieht alles abgenäht aus. Du musst mehr essen!«, erwiderte Daria grinsend, ging zur Tür und schaute auf die Uhr. »Noch zwei Minuten!« Julia schnürte die halbhohen Lederschuhe zu. Sie konnte hören, wie die letzten Polizeischüler die Treppen hinuntergingen, bereit für den Morgenappell, frisch geduscht, munter vom ersten Kaffee in der Mensa, scherzend und flirtend. Hastig zog sie die Uniformjacke an und knallte den Spind zu. Eine Minute vor sieben. Ein schneller Blick in den großen Spiegel neben der Tür. Sie leckte über ihre Handfläche und wischte fest über die kurzen braunen Locken – vergeblich, die drahtigen Haare wollten nicht am Kopf festkleben. Als sie mit der Frisur halbwegs zufrieden war, gab sie sich zwei kleine Ohrfeigen und zwickte sich fest in die müden Wangen. Da stand sie, Julia, die zukünftige Polizistin, Hüterin von Recht und Ordnung. Wirklich? Er war immer noch da, der leise Zweifel, als wäre alles nur ein Theaterstück, für das sie nachbesetzt worden war. Sogar heute, an dem Tag, dem sie so entgegengefiebert hatte.
 
Der Wecker hatte um halb sechs geklingelt, mehr schlafend als wach war Julia in das winzige Bad unter der tiefen Dachschräge gekrochen. Nach einer kurzen Katzenwäsche hatte sie im Stehen in einen Toast mit blassem Schnittkäse gebissen, dazu gab es löslichen Kaffee, ein Genuss im Vergleich zu dem selbstgerösteten Gebräu aus Eicheln und Zichorien, das ihr Vater ihr jeden Morgen vorgesetzt hatte. Um Viertel nach sechs hatte Julia in der Linie 16 gesessen, die sie zusammen mit den ersten verschlafenen Berufspendlern zum Hauptbahnhof brachte, wo sie erschrocken bemerkte, dass sie ihren Rucksack mit ihrem Handy und Portemonnaie zu Hause liegen lassen hatte. Egal, es steckte immer ein loser Geldschein in einer ihrer Taschen, also weiter mit der Regionalbahn 48. Ihre schlafverquollenen Augen hatten die trostlose Peripherie der Großstadt kaum wahrgenommen, die ersten Staus auf der Autobahn, den Baumarkt mit dem fußballfeldgroßen Parkplatz, das riesige Schienenareal des Containerbahnhofs, die gigantischen Lagerhallen der Speditionen, die Kiesgrube, an deren kargen Hängen noch der Müll der Wochenendschwimmer lag, und schließlich die Ölraffinerie am Horizont mit ihren rostig-braunen Schloten. Am Brühler Bahnhof hatte Julia wie so oft den 930er-Bus verpasst, weshalb sie die letzten anderthalb Kilometer zum Ausbildungsgelände rennend zurücklegen musste. Die riesige Sporttasche mit der Uniform wippte schwer auf ihrer Schulter, der gelbe Rollkoffer vom Sperrmüll holperte durch die Schlaglöcher. An der Schranke hatte die Pförtnerin sie mit dem gewohnt aufmunternden Lächeln gegrüßt, in dem Julia immer eine Prise Mitleid zu sehen glaubte. Natürlich hatten die anderen schon längst die Schranke passiert und frühstückten gerade in der Mensa oder saßen schwatzend in der Umkleide. Julia hätte sich einer der Fahrgemeinschaften anschließen können, aber sie schaffte es einfach nicht, noch früher aufzustehen, und sie schaffte es noch weniger, sich um diese Uhrzeit mit Menschen zu unterhalten, auch nicht mit netten.
 
Die Morgensonne hatte frisch durch die Bäume geblitzt, als Julia den Koffer die lange Straße entlang ins Herz des Geländes zog. Ein umzäunter Campus, eingerahmt von der Autobahn 553 Richtung Phantasialand und dem kleinen Park eines Rokoko-Jagdschlosses. Verstreut auf dem Gelände befanden sich Bauten mit Hörsälen, Turn- und Schwimmhallen, ein Mensagebäude, Stellplätze für Übungswagen, Wasserwerfer und Absperrgitter, ein Sportplatz, ein Übungsparcours aus rostigen Containern zum Häuserkampftraining und einige mehrstöckige Bürogebäude. Den ganzen Tag lang trieben sich überall auf dem Areal Gruppen aus je sechzehn Studierenden in Uniform herum; es wurden Verkehrskontrollen geübt, Zeugenbefragungen und Festnahmen mit und ohne Gegenwehr vorgenommen, Fahrtests mit Streifenwagen und Lauftrainings auf dem Sportplatz absolviert. Julia mochte Brühl, es war ihr eigentlicher Geburtsort als Polizistin. Hier hatte sich das Mädchen aus der Bauwagensiedlung mit seinen selbst genähten Klamotten und den wilden braunen Locken in eine junge Frau verwandelt. Hier hatte sie zum ersten Mal eine Uniform getragen. Hier hatte sie zum ersten Mal in einem Streifenwagen gesessen und das Martinshorn und Blaulicht eingeschaltet. Mit weichen Knien hatte sie im unterirdischen Schießstand gestanden, die Arme ausgestreckt, in der rechten Hand die Walther P99, Kaliber 9 x 19 Millimeter, 680 Gramm schwer, die Beine leicht eingeknickt, den Po rausgestreckt. In ihrer Uniform war ihr der Schweiß die Achseln hinuntergetropft, als die Ausbilderin ihr die Hand beruhigend auf die Schulter gelegt und das Kommando gegeben hatte: »Laden! Entschlossene Schusshaltung! Schießen!« Der Schlag hatte Julias rechte Hand hochgerissen, und sie hatte auf ihrer Zunge den metallischen Geruch von Schmauch schmecken können.
 
Der Knall war trotz der dicken Schallschutzkopfhörer gewaltig gewesen und hatte Julia für einen Moment paralysiert und gleichwohl fasziniert: Sie hatte das metallene Ding in ihren Händen zum Leben erweckt, sie hatte seine Macht gespürt, die Macht zu töten. Und sie hatte eine Ahnung bekommen, wie eine Waffe einen Menschen umschmeicheln konnte. Sie machte einen stark. Nach dem Schießtraining hatte Julia ihre Pistole auseinandergebaut, gereinigt und wieder zusammengesetzt, und die Ausbilderin hatte ihr die Patronenhülse des ersten Schusses gegeben, zusammen mit der postergroßen Pappe, die sie damit durchlöchert hatte. Wieder zu Hause in ihrer Dachwohnung, hatte Julia das Andenken mit dem winzigen Loch über ihr Bett gehängt. Sie war endlich angekommen. Am anderen Ende der Welt bei der Polizei. Eine Minute vor sieben. Julia stopfte die leere Sporttasche in den Rollkoffer, knallte den Spind zu, rannte aus der Umkleide und sprang in großen Schritten Stock für Stock die Treppen hinunter zum Parkplatz, wo schon über sechzig Polizeischüler in U-Form aufgereiht warteten, sich leise flüsternd miteinander unterhielten, an ihren Uniformen zupften und schnell ihre Kaugummis in Taschentücher spuckten. Julia ordnete sich ein, drückte den Rücken durch und wurde eins mit dem blauen Block. Um Punkt sieben öffnete sich die Tür des Hauptgebäudes, Hauptkommissar Berthold Roosen kam mit den anderen Ausbildern heraus und stellte sich vor seinen Kurs. Schlagartig wurde es ruhig, keiner rührte sich. Roosen hatte die Statur einer gedrungenen, alten Bulldogge. »Guten Morgen. Wie ist Ihre Stärke?«
 
Vom Rand der Gruppe meldete sich Sebastian, ein kräftiger Polizeischüler mit kantigen Gesichtszügen. »Soll sechzehn, Ist sechzehn!« Hauptkommissar Roosen nickte und musterte die Uniformierten. Er war der älteste Lehrer in Brühl. Trotz seiner beinahe sechzig Jahre hatte er dichte, dunkelgraue Haare, und bei den Sportübungen hatte Julia sehen können, dass seine Bizepse immer noch in den Ärmeln der Hemden und T-Shirts spannten. Sein Griff bei den Hilfestellungen an den Geräten hatte eine roboterhafte Kraft, und wenn er brüllte, schwollen die Adern an seinem baumstammdicken Hals an wie Blutegel. Der Eindruck täuschte, das wusste Julia. Sie hatte in der Bauwagensiedlung lange genug mit Menschen unterschiedlichsten Alters auf engem Raum gelebt, um die Zeichen der Abnutzung an Roosens Körper zu bemerken: Sein vorsichtiger Gang deutete auf verschlissene Kniegelenke hin, an den Fingern waren die ersten arthritischen Knoten zu erkennen, zwei Sorgenfalten gruben sich tief von der Nasenwurzel in die Stirn, und unter den hellblauen Augen schwollen die Tränensäcke. Roosen stand vor seinen Studenten und tastete mit scharfem Blick die Uniformen und Schuhe auf Falten und Verschmutzungen ab. Julia musste gegen den Drang ankämpfen, zu Boden zu starren. Er ist ein Wolf, dachte sie, er wittert es. In der Einöde hatte es keine Strenge gegeben, aber in den letzten Jahren hatte sie es immer stärker herbeigesehnt – Struktur und Klarheit, ein normales Leben. Dafür hatte sie alles hinter sich gelassen, die Uckermark, den großen See, die verrückten Aussteiger, ihren Vater Wolfgang. Sie hatte beim Feind angeheuert, dem »Männerbund«, wie er es nannte, den »Bullenschweinen«. Julia hatte sich nicht wirklich geärgert – Wolfgang war ein liebevoller Mensch und ein radikaler Prediger, ein ehemaliger Punk, der über seinem Bett im Bauwagen eine Kette mit Dutzenden abgebrochenen Mercedessternen hängen hatte und dessen Arme und Oberkörper mit wilden, bunten Tattoos bedeckt waren. ACAB. All Cops Are Bastards! Er hatte am Lagerfeuer in der Mitte des Bauwagenkreises mit seinen Heldengeschichten geprahlt, davon, dass er Häuser besetzt und mit Pisse gefüllte Luftballons auf die Drecksbullen geworfen hatte und sich von niemandem, wirklich niemandem etwas hatte sagen lassen. Da kommt es her, dachte Julia und fühlte sich in der Uniform immer noch wie eine Rollenspielerin.
 
»Willkommen zurück im Ausbildungszentrum. Ich wünsche Ihnen einen guten Start. Dienstende ist um 15 Uhr 30!«, rief Hauptkommissar Roosen den Nachwuchspolizisten entgegen und drehte sich zur Tür. Julia atmete vorsichtig aus. Er hat es nicht gewittert. Wieder einmal davongekommen. »Frau Gerloff?« Julia zuckte zusammen. Roosen war stehen geblieben und fixierte sie mit seinen durchdringenden Husky-Augen. »Bitte kommen Sie gleich in mein Büro.« Der Hauptkommissar ging, und Julia wechselte einen bangen Blick mit Daria. *..............

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