Die Bestimmung des Bösen

„Schließ die Augen und zähl bis hundert.“ Dies sind die letzten Worte, die Alexis von ihrem Vater hört. Kurz darauf sind ihre Eltern tot, und das kleine Mädchen bleibt als Waise zurück, verfolgt von traumatischen Erinnerungen.

Dreiundzwanzig Jahre später ist Alexis Hall Kommissarin bei der Mannheimer Kripo. Die wahren Gründe, warum sie zur Polizei ging, kennt niemand. Als mehrere brutal entstellte Frauenleichen in einem Wald entdeckt werden und sie die Ermittlungen leiten soll, holt sie ihre Vergangenheit ein. Denn die weißen Anemonen, mit denen die Toten geschmückt sind, kennt Alexis nur zu gut - aus ihrer Kindheit …

 

Erinnert ihr Euch noch an das Buch Das Nadelherz?

Dies ist Band eins der Reihe von Alexis Hall.

Ich muss sagen ich war ja schon vom Nadelherz begeistert und mich machten die Rückblicke auf Alexis neugierig. In diesem Buch erfahre ich nun viel mehr über Alexis und ihre erschütternde Geschichte. Zwar auch nu in Rückblicken aber das ist ja egal.

 

Das einzige was ich in dem Buch etwas überflogen hatte das waren wirklich die ausführlichen Biologischen Sachen. Wie wen es da um die Insekten ging. Ansonsten ist es aber toll geschrieben und auch der Fall an sich ist Spannend geschrieben.

****Spoiler*** So erfährt man zum Beispiel im Buch das Alexis die Tochter von Serienmördern war und die von Polizisten erschossen wurden.

Es ist richtig fesselnd den der Mörder ändert das Schema seiner morde in die Art wie auch die Eltern von Alexis die Morde getätigt haben.

Dann sind da auch noch die Zweifel ob sie nicht auch das Mörder gen in sich hat. Sie zweifelt an sich selbst und ihrer Vergangenheit.

Alles in allem ist es ein toller Thriller mit vielen Spannenden Abschnitten und einem überraschenden Ende womit ich so nicht gerechnet habe.

 

Leseprobe

 

London vor 23 Jahren »Daddy, wo gehen wir hin?« Das magere Mädchen mit den regengrauen Augen klammerte sich an den Mann, der sie aus ihrem Kinderbett hob und ins Treppenhaus eilte. Die Farbe blätterte von den Wänden, schmieriger Dreck färbte die Ecken. Wie jede Nacht dröhnte Musik aus der Wohnung nebenan. Harte Beats zu einer noch härteren Stimme, doch das Kind nahm es kaum wahr. Zu vertraut waren der Lärm, das Geschrei und der süßliche Geruch nach Hasch und Feuchtigkeit. Sie drehte ihren Kopf, spähte über die Schulter ihres Vaters nach ihrer Mutter, die ihnen mit einer schweren Tasche um die Schultern und einen Koffer hinter sich herziehend mühsam folgte. Ein Hosenbein ihres Lieblingspyjamas – der mit den rosa Ponys darauf – hing heraus und schleifte über den Boden. Sie hasteten die Treppe hinunter, begleitet vom Kratzen des Koffers auf dem Steinboden. Als die Eisentür zur Tiefgarage aufging, fing das Mädchen an zu weinen. Gerade noch hatte sie von ihrem Geburtstag geträumt, von Kuchen mit klebrigem Zuckerguss. Nun fand sie sich im grellen Licht und Surren der Leuchtstoffröhren wieder. Sie hörte das angestrengte Keuchen ihrer Mutter, die unterdrückte Panik in der Stimme ihres Vaters, als er sie zur Eile antrieb. Roch die Angst, den Geruch zu vieler Zigaretten und spürte seinen kratzigen Bart an ihrer Wange.

Er setzte sie hinten in ihrem verbeulten Auto ab, schnallte sie an und gab ihr einen Kuss. »Keine Angst, Lil’Bee. Daddy ist da.« Sie sah ihn an, den Riesen, der sie so leicht in die Luft werfen konnte, dessen Hände sie sanft kitzelten, wenn sie abends im Bett lag. Sie wollte ihm glauben. Hinter ihr hörte sie ihre Mutter rufen, gefolgt von einem Ruck, als der Koffer ins Fahrzeug gewuchtet wurde. Das Garagentor setzte sich mit einem kreischenden Geräusch in Bewegung. Ihr Vater fluchte, zog ihre Mutter mit sich. Sie sah sie diskutieren, sich anschreien, bis sich ihre Mutter plötzlich in seine Arme warf. Er umklammerte sie, presste sie an sich. Dann rannte sie zurück zum Auto; ihr blauer Seidenrock flatterte unordentlich um ihre Beine. Sie setzte sich neben das Mädchen auf den Rücksitz, vergrub ihren Kopf in ihren Haaren. »Wir wollten es besser machen.« Ihre Stimme brach. Sie sah sie mit tränennassen Augen an. In diesem Moment bekam das Mädchen wirklich Angst. »Mommy, bleib bei mir!«, schrie sie so laut ein achtjähriges Mädchen es konnte. »Ich kann nicht, mein Schatz. Mommy hat dich lieb. Mach du einmal alles anders.« Sie beugte sich vor, strich ihr liebevoll über die Wange, wischte die Tränen weg und gab ihr einen Kuss. »Ich liebe dich so sehr. Du bist das Beste, was ich je zustande gebracht habe.« Dann war sie verschwunden, ersetzt durch die dunkle Gestalt ihres Vaters. Auch seine Augen waren feucht, und wenn sie nicht schon halb verrückt vor Angst gewesen wäre, hätte dieser Anblick sie in Panik versetzt. Ihr Daddy, der immer genau wusste, was zu tun war, erschien so hilflos.

 

Ein Quietschen erklang in ihrem Rücken, aus der Richtung des Tores, und plötzlich war es hell, schrecklich hell. Gehetzt blickte ihr Vater über seine Schulter, dann wandte er sich ihr erneut zu. »Wir spielen jetzt ein Spiel«, sagte er ernst. Sie nickte. Alles, wenn sie nur davonfahren würden. Raus aus dieser Tiefgarage, an einen Ort, an dem Mommy und Daddy sich nicht anschrien, wo sie wieder stark waren und nicht voller Angst. »Schließ die Augen, Lil’Bee.« Sie gehorchte, am ganzen Körper zitternd, umklammerte dabei seinen Arm. Das Licht war so grell, dass es sie selbst durch ihre Augenlider hindurch blendete. »Nun zähl langsam bis hundert. Das kannst du doch?« Sie nickte erneut. »Versprich mir, nicht zu schummeln.« »Okay. Und was passiert dann?«, presste sie mit vom Schluchzen rauer Kehle hervor. Stimmen drangen zu ihnen, aus derselben Richtung, aus der auch das Licht kam. »Dann sind wir an einem besseren Ort.« »Es ist so weit«, hörte sie ihre Mutter vor der Autotür sagen. Sie klang plötzlich ganz ruhig. Das Mädchen nahm die Antwort ihres Vaters nicht wahr, spürte nur seine weichen Lippen und den kratzigen Bart, als er ihr einen Kuss gab. »Ich liebe dich, Lil’Bee.« Dann war er fort. Sie begann zu zählen. 1 … 2 … 3 … Da waren aufgeregte Stimmen.

4 … 5 … 6 … Die Stimmen wurden lauter, fordernder. Das Mädchen presste die Augen fest zusammen, drückte sich tief in ihren Sitz. 7 … 8 … 9 … 10 … 11 … Ein dröhnender Knall. Das Mädchen wimmerte. 12 … Noch mehr Rufe. Schreie. 13 … 14 … 15 … 16 … 17 … 18 … Eine Serie von Geräuschen, die sie an ein Feuerwerk erinnerten. 19 … 20 … Stille. 21 … Hastige Schritte. Sie kam bis 49, dann war da eine weiche Hand. »Bist du verletzt?« Eine fremde, sanfte Stimme. Trotzdem kniff sie die Augen weiter zusammen. 73 … 74 … 75 … 76 … 77 … 78 … 79 … Sie hatte es ihrem Vater versprochen. Sie wollte an diesen besseren Ort, wollte nicht zurückgelassen werden. Sie zählte verbissen weiter. Auch als noch zwei Fremde kamen, sie abschnallten und aus dem Auto hoben. 96 … 97 … 98 … 99 … 100. Sie öffnete die Augen. Und die Welt war eine andere.

 

Heute

Der Geruch nach feuchtem Stein, Mäusekot und Schimmel kroch wie ein übel riechender Schleim über ihre Nase in die Mundhöhle. Sie wollte ausspucken, um den widerwärtigen Geschmack loszuwerden, doch ein dickes Klebeband verschloss ihre Lippen, verschluckte den Schrei, der in ihrem Inneren aufbrandete, als sie sich erinnerte: Aufwachen im Dunkeln. Ein Albtraum? Das Herz rast, der Atem hechelt. Schritte? Oder nur ein Tier auf dem Dach? Der Griff nach dem Lichtschalter fährt ins Leere. Was? Wo ist die Lampe? Jäh ein Gewicht auf dem Brustkorb. Hände, die sie niederdrücken. Keine Luft. Angst. O Gott, solche Angst. Strampeln. Brennen in der Lunge. Die Bewegungen erlahmen. Schwärze. Ihr umnebelter Verstand versuchte zu analysieren, was mit ihr geschehen war, suchte das Unfassbare zu begreifen. Anni, schoss es ihr durch den Kopf. Was war mit ihrer Tochter? Erst vor zwei Wochen, kurz nach ihrem ersten Geburtstag, hatte ihr Mann sie dazu überredet, die Kleine endlich in ihrem eigenen Zimmer schlafen zu lassen, nur noch über ein Babyfon mit ihr verbunden. Mehr Zweisamkeit, Fernsehen im Bett und Lesen, solange sie wollte – traumhaft –, aber sie hatte es nicht so recht genießen können. Rabenmutter, flüsterte ihr eine altbekannte Stimme zu. Das erste Mal war sie in Erscheinung getreten, als sie nach sechs Monaten wieder angefangen hatte, als Steuerfachgehilfin in Teilzeit zu arbeiten. Jeden Morgen, wenn sie Anni zur Oma brachte, raunte es in ihrem Kopf. Wann immer die Erschöpfung sie zu lähmen drohte und sie sich an die sorglosen Zeiten vor der Geburt zurückerinnerte, schlugen die Schuldgefühle zu. 

 Sollte eine Mutter denn nicht ihr ganzes Glück in ihrem Kind finden? Plötzlich tasteten Finger kühl und irgendwie sachlich über ihren Körper. Sie wollte sich wehren, aber ihre Hände waren mit Klebeband auf den Rücken gefesselt, die Füße aneinandergebunden. Fest und unnachgiebig verhinderte es jede Gegenwehr. Sie wand sich im Griff des Unbekannten, während sich Tränen in den ebenfalls mit Klebeband verschlossenen Augen sammelten. Die Finger verschwanden. Stille. Dann ein reißendes Geräusch aus einigen Metern Entfernung, gefolgt von einem gedämpften Stöhnen. O Gott. Wie viele waren noch hier? Schließlich ein Scharren, als würde ein Körper über den Boden geschleift. Schlagartig war er wieder da. Sie konnte nicht sagen, woher sie wusste, dass es ein Mann war, aber sie war sich dessen ebenso sicher wie der Tatsache, dass sie ihre Tochter niemals wiedersehen würde. Nie mehr Annis glucksendes Lachen, kein Milchbrei und Birnenmus. Er beugte sich über sie. Sein saurer Atem blies ihr in den Nacken. Dann zerschnitt er das Klebeband an ihren Füßen, packte sie an den Haaren und zerrte sie auf die Beine. Sie bekam nicht genug Luft, versuchte panisch durch die verklebten Lippen einzuatmen. Sei eine gute Mutter, sagte sie sich, und kämpfe. Anni braucht dich. Sie riss sich los, ignorierte das Brennen der ausgerissenen Haarbüschel, taumelte blind nach vorne. Doch sie kam nicht weit. Ein heftiger Schlag ins Gesicht warf sie nieder. Er meinte es ernst. Todernst. Er packte sie am Nacken, führte sie einige Schritte vorwärts, bevor sie stehen blieben.

 

Dann klirrte es – ein helles, metallisches Geräusch, wie von den Klammern, mit denen man Christbaumkugeln aufhängt. Letzte Weihnachten war Anni noch zu klein gewesen, um an den Vorbereitungen teilzunehmen, dieses Jahr wollten sie alles zusammen machen: einen Tannenbaum schmücken, Lebkuchen und Plätzchen backen und das ganze Haus mit selbst gebastelter Weihnachtsdekoration überladen. Bitte, flehte sie ihren Mann in Gedanken an, was auch immer mit mir geschieht, lass unsere Tochter ein richtiges Weihnachtsfest erleben. Eine Drahtschlinge wurde um ihren Hals gelegt, dünn und kalt. O bitte! Nein! Dann ein heftiger Ruck an dem Klebeband über Augen und Mund. Es nahm Fetzen der empfindlichen Haut und ihre Wimpern mit. Feurige Wellen des Schmerzes schossen durch ihre Nervenbahnen. Sie hörte erneut einen unterdrückten Schrei in ihrer Nähe. Eindeutig eine Frau. Dann blendete sie ein grelles Licht, das von allen Seiten zu kommen schien. Sie zuckte zurück, woraufhin die Schlinge sich tiefer in ihr Fleisch schnitt. Voller Angst blieb sie bewegungslos sitzen. Sie hatte nie zu den Mutigen gehört. Wieder das Geräusch von Klebeband, das von Haut abgerissen wurde. Ein heiserer Schmerzensschrei, in dem so verzweifelte Hilflosigkeit mitschwang, dass es sie bis in ihr Innerstes erschütterte. »Susie«, krächzte eine raue Stimme. Eine Stimme, die ihr vertraut war, die sie ihr ganzes Leben begleitet hatte. Mit der sie gelacht, geweint, gestritten, diskutiert und sich versöhnt hatte.

Das Licht erlosch bis auf eine einzelne, flackernde Glühbirne an der Decke, und nach einigen Sekunden sah sie sie. Oder zumindest das, was von ihrer besten Freundin übrig war. Sie kauerte wenige Meter von ihr entfernt auf dem kahlen Zementboden. Der nackte Körper von Dreck besudelt. Das Haar klebte in dunklen Strähnen an ihrem von Panik entstellten Gesicht. Ihre zerschnittenen Finger krampften wie bei einem Epileptiker. Susann musste für einen Moment die brennenden Augen schließen, als sie sah, wie eine dicke schwarze Spinne langsam über die Brüste ihrer Freundin kroch, einen Bogen um ihre hellbraunen Brustwarzen zog. Ihre Freundin nahm es nicht wahr. Sie starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an, murmelte fortwährend. »Nein, nicht Susie. Nein. Nur nicht sie.« Dann zwang Susann sich, ihren Blick auf den Hals ihrer Freundin zu richten, auf die feine Drahtschlinge, die sich wie bei ihr selbst tief ins Fleisch grub. Der Draht kam von der Decke, erlaubte es ihr gerade so aufrecht zu sitzen. Sobald sie sich auch nur ein Stück bewegte, ließ er neue Ströme von Blut heraussickern. Susann zuckte reflexartig nach vorne, wollte ihrer Freundin zu Hilfe eilen, da spürte sie einen schneidenden Schmerz. Der Draht an ihrem eigenen Hals biss unbarmherzig in ihr Fleisch. »Nein!« Ihr Schrei wurde von den Wänden zurückgeworfen.

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