Hybris
 
 
 
 
Steffen Jacobsen
Thriller
Erscheinungstermin: 10. September 2018
384 Seiten, 13,5 x 20,6 cm
Hybris
 
Eine junge Frau wird tot aufgefunden. Sie hat eine Schusswunde am Rücken, und ihre Kleider sind von Salzwasser durchtränkt. Kurz vor ihrem Tod hat sie sich ihren Namen und ihr Geburtsdatum in die Haut geritzt. Ein versteckter Hinweis auf den Täter? Kommissarin Lene Jensen übernimmt den Fall. Unterdessen wird Ermittler Michael Sander mit der Suche nach einer spurlos verschwundenen Geigerin betraut. Die Wege von Jensen und Sander kreuzen sich, und sie kommen einem Verbrechen auf die Spur, das an Grausamkeit kaum zu überbieten ist.
 
 
 
Wir Menschen sind die genetische Elite; das sinnliche, denkende und kreative Produkt unzähliger genetischer Ereignisse,
Mutationen und Fehlcodierungen.
Gary Hamel
 
 
****
Ich muss sagen ich kannte die Vorgänger Bücher nicht von Steffen Jacobsen und die Geschichten von Lene und Michael nicht.
 
Aber da muss ich auch sagen das fand ich nun auch nicht Schlimm ich kam gut in Ihre Private Geschichte rein,den die beiden sind miteinander verheiratet aber wollen sich Scheiden lassen.
 
Das Buch ist aus verschiedenen Sichtweisen der diversen Charaktere geschrieben.
 
Ich muss sagen ich kannte den Autor nicht aber mich Interessierte der Klappentext und so kam ich auf das Buch.
 
Das Buch an sich liest sich gut und auch die Story ist sehr gut,nur manchmal muss ich sagen war ich echt etwas überfordert den manche Stellen waren nicht Logisch für mich und waren sehr verwirrend.
 
In dem Buch Treffen sich die Beiden Ermittler,auch wird etwas mehr auf das Verhältnis der beiden eingegangen was mich aber nicht störte den es störte auch nicht die Story.
 
Zu der Story kann ich sagen es ist schon recht fesselnd und Spannend geschrieben.
 
Es gab einige stellen wo mir klar war wie es weitergeht aber dann gab es auch wieder Stellen womit ich gar nicht gerechnet habe.
 
Einige Stellen des Buches sind auf Englisch geschrieben was für einige schon etwas schwer ist zu lesen,wen die Englisch Kenntnisse nicht so gut sind.(Leider gibt es keine Übersetzung im Buch)
 
Die Story an sich macht einen schon sehr nachdenklich den es geht von der Thematik nicht nur um den Mord sondern auch das man das Perfekte Kind bzw den Perfekten Mensch durch Gene Technik Produzieren will.
 
Alles in allem ein wirklich tolles Buch mit Spannung und auch etwas Humor und eben einen doch irgendwo Tiefsinnigen Thema.
 
Aber nicht nur das ernste Thema Gentechnik  und der Mord sind im Buch beschrieben es gibt auch durchaus Humorvolle Abschnitte und auch die Erotik kommt nicht zu kurz.
 
Ich muss sagen die Vorgänger dieses Buches haben mich nun auch neugierig gemacht und ich denke ich werde sie dann auch noch Lesen.
 
 
Leseprobe
 
 
PROLOG
 
 
Batapora, Kaschmir, Indien
WAS BATAPORA IN DEN AUGEN Michael Sanders
von den meisten anderen grenznahen Städten in Kaschmir
unterschied, war das Bezirksgefängnis. Das für ihn hoffentlich das Ende einer vier Monate dauernden Menschenjagd
durch das Land der großen Flüsse am Fuße des Himalaja
bedeutete.
Er saß auf der Rückbank eines Range Rovers, an dessen
vorderem Kotflügel die dänische Flagge flatterte, und beobachtete die Ortschaft in der Talsenke durch einen Feldstecher. Die typischen ein- und zweistöckigen Betonkästen
mit Flachdächern, wie zufällig am Ufer eines träge dahinfließenden, braunen Flusses verteilt, ein Gewirr tief hängender Oberleitungen und Wäscheleinen, verwoben zu einem
komplexen Netz zwischen den Häusern, überfüllte Gassen – und dazu diese Gedrungenheit jeglicher Bebauung
vor der Kulisse des mächtigen Hindukusch.
Für ihn sahen alle Orte in Kaschmir gleich aus.
Michael zündete sich eine Zigarette an und überflog noch
einmal das zerknitterte Telex, für das er den indischen
Sekretär der dänischen Botschaft in Neu-Delhi bestochen
hatte, weil er überzeugt gewesen war, dass es entscheidende
Informationen enthielt. Danach hatte er dem indischen Sekretär weitere 10 000 Rupien zugesteckt, damit er die Informationen dem übrigen Botschafts-Stab eine Woche vorenthielt und so schnell wie möglich dem Kommandeur des
Gefängnisses seine Ankunft als Michael Berg ankündigte,
chargé d’affaires danoise.
 
Das war zwei Tage her, und nun war er sich gar nicht
mehr so sicher.
Er begegnete dem Blick seines Turban tragenden Chauffeurs im Rückspiegel, der eine gewisse Ungeduld ausdrückte.
Der Chauffeur hatte seine Frau und die drei Kinder lange
nicht mehr gesehen.
»Okay, Gurpal«, murmelte Michael, »fahren wir dort runter. Ich ertrage nur keine weitere …«
»Ich bin sicher, dass Batapora unser endgültiges Ziel ist,
Sahib«, sagte der Chauffeur mit Nachdruck. »Ich habe diesen Ort schon einmal gesehen …«
»In einem Traum. Das sagst du immer, oh mächtiger
Gurpal Singh, wenn wir auf einer holperigen Bergstraße
stehen, an deren Ende du Shangri-La vermutest.«
»Irgendwo muss er schließlich sein«, warf Gurpal sehr
vernünftig ein. »Kein lebender Mensch kann nirgendwo
sein, Sahib Michael.«
»Vor vier Monaten hätte ich dir da noch zugestimmt,
aber Silas Monell scheint genau dieses Kunststück zu
gelingen. Oder ich bin schlicht und ergreifend nicht gut
genug.«
»Sag so etwas nicht«, sagte Gurpal Singh entrüstet. »Lebe
dein Leben nicht im Schatten gedachter Niederlagen.«
 
Michael zwinkerte dem Fahrer zu. Sie hatten sich vor einigen Jahren kennengelernt, als Gurpal Singh als Taxifahrer
in Kopenhagen gearbeitet hatte. Er hatte Michael ohne
Rücksicht auf sein eigenes Leben geholfen, einen islamistischen Terroranschlag auf das Außenministerium zu verhindern. Für die Ehrenpension, die der dänische Staat ihm
dafür gewährt hatte, war er in seine Heimat und zu seiner
Familie zurückgekehrt.
Der Range Rover holperte die letzten Kilometer der unebenen Bergstraße hinunter, während Michael noch einmal besorgt seine Unterlagen überflog.
Es gab vier Fächer für verstorbene Gefangene in dem winzigen, überhitzten und klaustrophobischen Leichenschauhaus. In allen Ecken dampften Wasserlachen unter undichten Kühlrohren. Michael filterte den Gestank durch eine
nicht angezündete Zigarette.
Stabsunteroffizier Hazari, der junge Gefängnisleiter, lächelte nachsichtig.
Der Offizier sah tadellos aus. Gepflegter, dichter Bart,
unangreifbares Lächeln, schneeweißer Turban, blank polierter Ledergürtel mit Schulterriemen. An den Bügelfalten der Khakiuniform konnte man sich schneiden. Offenbar war der Gefängnisleiter ein wechselwarmes Wesen,
da in seinem Gesicht nicht ein Schweißtropfen zu sehen
war, während Michael seine Kleider auswringen konnte.
Hazari gab seinem Quartiermeister ein Zeichen, worauf
dieser das obere linke Fach öffnete, eine hydraulische
Hebe bühne unter die Öffnung schob und bis auf Brusthöhe hochpumpte. Als er die Bahre aus dem Fach auf den
 
Lift zog, ließ die frische Welle Leichengeruch Michael
einen Schritt zurücktreten und den Schlips lockern. Wieder betrachtete Hazari ihn mit seinem nachsichtigen Lächeln.
Die Hebebühne sackte unter dem in ein grob gewebtes, gebügeltes Laken gewickelten Leichnam bis auf Kniehöhe herunter. Am unteren Ende ragten ein paar knochige,
weiße Füße heraus. Michael studierte das Stück Pappe, das
mit Bindfaden an den großen Zeh des Verstorbenen geknotet war. Darauf war das heutige Datum notiert, aber kein
Name.
»Er ist heute gestorben?«
»Frühmorgens, Mr. Berg. Der junge Mann ist erst vor drei
Tagen verhaftet worden und hat sich geweigert, uns über
seinen Namen oder seine Nationalität aufzuklären.«
Mit der Miene eines Zauberkünstlers zog der Quartiermeister das Laken von der Leiche. Michael schloss die
Augen in einer Art erschöpften Triumphes. Er war sich seiner Sache augenblicklich sicher. Gurpal und er mussten
nicht mehr weitersuchen.
Er schlug die Augen wieder auf und sah sich den abgemagerten, jungen Mann genauer an. Der Mund war ein
schwarzes Loch, es fehlten mehrere Zähne. Der Tote trug
diverse primitive Tätowierungen, Reminiszenzen an die
Hippiekultur: Vögel, Kompassrosen, Friedenszeichen, Regenbogen und Sterne. Seine Iris hatte dieselbe Farbe wie
seine Nägel, der schüttere, blonde Bart reichte bis zum Brustbein, das Haar war in dreckigen, blonden Dreadlocks verfilzt. Sein Körper war übersät von blauen, blutunterlaufenen Einstichstellen, am stärksten in der Leiste, an den
 
Handgelenken und in den Ellenbeugen. Der Hals lag in
einer unnatürlichen Stellung, und ein bläulicher Streifen
zog sich von einem Ohr zum anderen. Er hatte die typisch
gekrümmte Nase der Familie und eine breite, vorgewölbte
Stirn, vom Tod hervorgehobene Gesichtszüge.
Der Form halber blätterte Michael einen Stapel Fotografien durch, ohne das Gesicht des Toten aus den Augen zu
lassen.
»Weshalb wurde er verhaftet?«
Hazari lächelte.
»Vorrangig, weil er am örtlichen Gymnasium Rohopium
verkauft hat. Danach, weil er kein gültiges Visum oder eine
Arbeitsgenehmigung hatte. Wir können nicht tolerieren,
dass diese Abendländer unsere Jugend auf die schiefe Bahn
bringen, Mr. Berg.«
»Natürlich nicht. Hatte er Geld bei sich?«
»Wir haben ein paar Rupien gefunden. Er wohnte in einem
alten Fiat ohne Reifen und Nummernschilder, und es dürfte
einige Zeit her sein, dass er eine ordentliche Mahlzeit zu
sich genommen hat. Das ist sehr tragisch, Mr. Berg, aber
bei Weitem nicht das erste Mal, dass wir einen dieser jungen Globetrotter verhaften. Aus unerfindlichen Gründen
übt unser Land eine magnetische Anziehungskraft auf jüngere Abendländer aus.«
»Drogenabhängige, meinen Sie?«
Hazari sah unangenehm berührt aus. Er wollte nicht voreingenommen wirken, vermutete Michael.
»Well, vielleicht suchen sie so etwas wie geistige Reinigung in den Ashrams und Kommunen. Aber oft enden sie
hier bei uns. Genau dort.«
 
Der Stabsunteroffizier zeigte auf das leere Fach in der
Wand, das bei Michael die Assoziation einer Einbahnstraße
ins Jenseits hervorrief.
»Wie auch immer. Er hatte keinen Pass bei sich, wenn
ich es richtig verstanden habe?«
Michael presste die Worte mühsam in die dicke Luft.
Leise knarrend wippte Hazari in seinen blanken, braunen Stiefeln auf und ab.
»Wenn sie Hepatitis haben und kein Blut mehr spenden
dürfen, ist der nächste Schritt in der Regel, ihren Pass an
einen pakistanischen Zwischenhändler zu verkaufen. Die
stehen in bestimmten islamischen Netzwerken hoch im
Kurs, die international agieren. IS, al-Qaida, Boko Haram.
Suchen Sie es sich aus.«
Hazari drehte sich um und zeigte auf eine Wand, an der
mehrere Kacheln fehlten.
»Hundertfünfzig Kilometer westlich von hier liegt Abottabad, Mr. Berg. Osama bin Laden war viele Jahre sozusagen unser direkter Nachbar. Wir befinden uns in einer Art
chronischer Belagerung von Pakistan.«
Michael sah auf seine Uhr.
»Verstehe. Was ist heute Nacht passiert?«
»Es ist ihm offenbar gelungen, seine Decke mit den
Zähnen zu zerreißen. Die Stoffstreifen hat er zu einem
Seil geflochten, es ans Gitter geknotet und sich erhängt. Bei der Morgenrunde war er bereits eine Weile
tot.«
Im jungenhaften, glatten Gesicht des Offiziers hatte sich
ein bewundernder Ausdruck ausgebreitet.
»War er alleine?«, fragte Michael.
 
»Wir können unseren Inhaftierten bedauerlicherweise
keine Einzelzellen anbieten, Mr. Berg«, antwortete Hazari
ernst. »Wir sind hier nicht in Dänemark, wissen Sie.«
»Er war also nicht alleine?«, wiederholte Michael seine
Frage.
»War er nicht, nein.«
»Warum hat niemand Alarm geschlagen oder versucht,
ihm zu helfen?«
Zu diesem Teil ihrer Unterhaltung hatte Stabsunteroffizier Hazari nichts Erhellendes beizutragen. Er sah Michael
ausdruckslos mit seinen schwarzen Augen an.
»Vielleicht haben die Mitgefangenen seinen Wunsch respektiert, oder sie haben geschlafen. Wer weiß?«
Michael spürte einen starken Drang, diese trostlose Filiale des Mittelalters samt ihrem Gestank so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Er öffnete seinen Aktenkoffer.
»Sie gestatten?«
Hazari wischte einladend mit der Hand durch die Luft.
»Natürlich.«
Michael zog Latexhandschuhe über, öffnete eine Packung
Spezialtape und nahm dem Verstorbenen sorgsam die Fingerabdrücke ab. Danach schob er dem jungen Mann ein
Wattestäbchen in den Mund und rollte es auf der Schleimhaut hin und her. Er schob das Wattepad in ein Probenröhrchen mit Pufferlösung und brach das obere Ende ab,
ehe er den Behälter verschloss und das Etikett beschriftete.
Er beendete die Identifikation, indem er Fotos vom Gesicht
und den Tätowierungen des Toten machte.
Hazari nickte dem Quartiermeister zu, der den Leichnam wieder zudeckte, die Hebebühne nach oben pumpte
 
und die Bahre in das Wandfach schob. Michael stand davor
und sah die Klappe mit einem endgültigen Klicken zufallen. Er nickte Hazari zu, der ihm höflich die Tür öffnete.
Sie durchquerten eine kühle Halle mit hohen Säulen, die
in eine spitz zulaufende Gewölbedecke übergingen. Es war
still wie in einer Kirche. Die Räume zwischen den Säulen
waren mit schwarzen, von Stacheldraht und elektrischen
Kabeln gekrönten Eisengattern abgesperrt. Dahinter waren
unüberschaubar viele Gefangene zusammengepfercht. Michael konnte sich nicht vorstellen, dass der Bodenplatz
für alle reichte. Vielleicht schliefen sie im Stehen. Oder abwechselnd. Alte, magere Männer mit silberweißen Bärten,
Raubvogelprofil und zerlumpten Turbanen – Stammesleute
aus den nördlichen Provinzen –, junge Städter in neonfarbenen Nylonshirts und Jeans, Kriminelle mittleren Alters,
bullige Männer, die seinen Blick hemmungslos trotzig erwiderten.
Dieser Winkel Indiens war seit den Zeiten Alexanders des
Großen ein Epizentrum für grenzüberschreitende Konflikte,
die sich durch Stämme, Clans, Religionen und zeitweise Familien zogen. Es würde immer überfüllte Gefängnisse in
Kaschmir geben, dachte er. Die Gefangenen hingen an dem
Gatter und musterten ihn ohne jede Neugier – die meisten
wohl ohne jede Hoffnung.
Hazari ignorierte die Gefangenen.
»Also, wer war er, Mr. Berg?«
»Er war das einzige Kind eines bedeutenden Mannes.
Sein Name ist Silas Monell. Er wurde dreiundzwanzig Jahre
alt.«
»Monell …? Der Name kommt mir bekannt vor.«
 
»Wenn Sie Ihr Mobiltelefon zerschlagen und ein Mikroskop zur Hand nehmen, finden Sie den Namen auf mindestens der Hälfte der Komponenten. Das Gleiche gilt für
Ihren Computer und die Spielekonsole Ihres Sohnes, falls
Sie einen Sohn haben.«
Hazari verharrte in seiner Bewegung.
»Der Monell?«
»Ja. Sie werden sich auf ein gewisses Interesse seitens der
Weltpresse einrichten müssen, befürchte ich.«
Unteroffizier Hazari erstarrte für einen Augenblick bei
Michaels Mitteilung. Dann streckte er den Rücken und schob
das Kinn vor. Er war bereit, komme, was da wolle.
Michael war überzeugt, dass der Unteroffizier es noch
weit bringen würde.
Sie traten in das grelle Sonnenlicht hinaus. Michael setzte
die Sonnenbrille auf, atmete tief ein, um den Leichen geruch
aus Hals und Nase zu bekommen, und zündete sich eine
Zigarette an. Sein Blick schweifte über die unnahbar fernen, weißen Zinnen der Hindukusch-Kette. Er konnte die
Anziehungskraft des Landes auf verirrte Seelen nur zu gut
nachvollziehen. Es war ein guter Ort zum Untertauchen
und Fliehen. Auch vor sich selbst.
Der weiße Range Rover parkte hinter zwei staubigen Polizei-Jeeps mit Blaulichtern und langen Antennen, die in
dem leichten Wind schwankten, der durch das Tal zog. Als
Gurpal Michael sah, startete er den Motor. Der Danebrog
leuchtete rot-weiß auf dem Kotflügel.
»Woher wussten Sie, an welche Botschaft Sie sich wenden mussten?«, stellte Michael eine letzte Frage.
 
Unteroffizier Hazari zeigte auf den Wimpel des falschen
Botschaftsfahrzeuges.
»Er hatte die gleiche Flagge auf seinem Rucksack, darum.«
»Gut kombiniert. Ich werde die Angehörigen informieren, Unteroffizier Hazari.«
Der junge Mann lächelte verlegen.
»Danke, Mr. Berg. Das weiß ich sehr zu schätzen. Am
besten so schnell wie möglich. Wir haben nur vier Leichenfächer im Gefängnis, wie Sie gesehen haben. Mit Silas Monell sind alle belegt, von daher … wären wir dankbar über
so schnelle Anweisungen wie möglich, was den Verstorbenen betrifft.«
»Ich werde Sie umgehend informieren.«
Unteroffizier Hazari verabschiedete sich mit militärischem
Gruß. Vielleicht erahnte er einen Waffenbruder unter Michael Sanders hellem, gut sitzendem Anzug mit weißem
Hemd, neutraler Krawatte und der aufrechten Haltung.
 
MICHAEL TIPPTE EINE internationale Nummer in sein
Mobilgerät und legte Gurpal eine Hand auf die Schulter.
»Dreh bitte die Klimaanlage auf, ich verdampfe gleich.
Und lass uns fahren. Deine Vorahnung war übrigens korrekt.
Wir sind am Ziel. Er war es. Du kannst zu Frau und Kindern zurückkehren.«
Gurpal lächelte mit all seinen Goldzähnen und gab Gas.
Eine Stimme meldete sich am anderen Ende.
»Michael?«
»Es war Silas, Herr Monell. Er ist tot. Mein Beileid.«
»Sind Sie sicher?«
Die Stimme war tonlos.
»Ich habe Fotos gemacht, Fingerabdrücke und DNA-Proben genommen«, sagte Michael. »Aber ich bin auch so absolut sicher.«
Die Mittagshitze in dem Tal war unwirklich. Michael
wand sich aus der Anzugjacke, befreite sich von der Krawatte und schickte Gurpal Singh einen resignierten Blick.
Der Sikh zuckte mit den Schultern. Er konnte seinem Auftraggeber auch nicht helfen. Die Klimaanlage des Wagens
kämpfte einen aussichtslosen Kampf. Der Range Rover
rumpelte durch eine Hauptstraße, die von Mauer zu Mauer
mit Menschen und Tieren verstopft war. Ein Dromedar
 
musterte Michael neugierig mit seinen mädchenhaften
Augen. Er zwinkerte es an. Gurpal drückte die Hupe durch,
und Michael steckte einen Finger in sein freies Ohr.
»Wann und wie ist er gestorben?«, fragte Bertram Monell.
»Er wurde vor drei Tagen verhaftet, weil er Rohopium an
die Schüler des Gymnasiums im Ort verkauft hat. Heute
Morgen wurde er erhängt in der Zelle gefunden. Wir befinden uns in einem kleinen Ort namens Batapora im Nordosten Kaschmirs. BA-TA-PO-RA. Das ist ganz in der Nähe
von Srinagar, der Distrikthauptstadt.«
»Wusste jemand, wer er ist?«
»Nein.«
»War es Selbstmord?«
»Ja«, sagte Michael. »Der Gefängnisleiter wartet auf Instruktionen, was Silas betrifft. Das Gefängnis verfügt nur
über vier Leichenfächer, die momentan gefüllt sind. Wenn
es neue Leichen gibt, verbrennen sie ihn.«
»Er soll selbstverständlich hier auf der Insel begraben
werden«, sagte Monell. »Neben seiner Mutter. Ich werde
Kaufmann umgehend losschicken.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen.
Gurpal hatte die Seitenscheibe heruntergekurbelt und
rief ein paar träge auf der Straße wankenden Bauersfrauen
mit Gemüsekiepen auf dem Rücken etwas zu, die den offiziellen Wagen hinter sich einfach ignorierten und weiter
miteinander redeten, worauf er wutentbrannt mit der flachen Hand außen gegen die Tür schlug. Sie vollführten respektlose Handzeichen, und Gurpal raunzte sie vor Wut
schäumend in einem lokalen Dialekt an.
»Michael …«
 
»Ja?«
»Es mag Ihnen vielleicht unsensibel erscheinen, dass ich
ausgerechnet jetzt damit komme, aber es kann schlicht und
ergreifend nicht warten. Wären Sie bereit, mir noch ein paar
Tage Ihrer wertvollen Zeit zu schenken? Ich wäre Ihnen
sehr verbunden. Sehr.«
»Worum geht es?«
»In der Hauptgeschäftsstelle in Paris scheint es ein Leck
zu geben. Unser Hauptkonkurrent … ich nenne keine Namen  … hat es in den letzten Monaten in magischer, ja,
geradezu wundersamer Weise geschafft, wenige Tage vor
uns Prozessoren zum Patent anzumelden. Prozessoren,
die erstaun liche Ähnlichkeiten mit unseren haben. Das
ist unakzep tabel. Hätten Sie Zeit, sich das näher anzuschauen? Ein frischer Blick von außen ist immer vorteilhaft.«
»Ein paar Tage?«
»Allerhöchstens. Die nötigen Flugtickets und eine Hotelreservierung könnten am Flughafen in Srinagar hinterlegt
werden, wenn Sie einverstanden sind.«
Michael seufzte und zog sein feuchtes Hemd vom Rücken weg.
Es gab zwar keinen Grund zu feiern, aber er hatte bereits
mit dem Gedanken an eine Woche in einer Hängematte
unter raschelnden Palmen auf einer thailändischen Insel mit
eisgekühlten Drinks gespielt.
Eigentlich sollte er so schnell wie möglich zurück nach
Europa. Heim zu Lene. Er sollte so etwas wie Sehnsucht
spüren. Immerhin hatten sie sich vier Monate nicht mehr
gesehen.
 
Aber er mochte Paris. Warum also nicht das Angebot
annehmen?
»Wenn ich im George V wohnen kann, bin ich dabei«,
sagte er.
»Abgemacht. Danke.«
Es war Karma und unausweichlich, dass sein Telefon just
in dem Augenblick klingelte und Lenes Konterfei auf dem
Display erschien. Michael sah das Telefon in seiner Hand
an, dann schaltete er es aus, steckte es in die Tasche und
begegnete Gurpals vorwurfsvollem Blick im Rückspiegel.
»Neues Ziel, Gurpal. Flughafen Srinagar. So schnell es
geht. Ich werde mich dort von dir verabschieden.«
Der Chauffeur nickte stoisch.
»Wir sehen uns wieder«, sagte er mit absoluter Gewissheit.
Michael lächelte. »Das hoffe ich doch sehr, Gurpal.«
 
Dänemark
BERTRAM MONELL SCHOB das Mobiltelefon zurück
in die tiefe Tasche seiner japanischen Hose, ehe er mit dem
fortfuhr, womit er beschäftigt gewesen war, als Michaels
Anruf kam: der Justierung eines etwa ein Meter langen,
ausgehöhlten Bambusrohres, eines sozu, Teil eines Wasserspiels im Bachlauf seines japanischen Gartens.
Er trat einen Schritt zurück und lauschte. Das kristallklare, gefilterte Wasser lief in die obere Öffnung des
sozu, bis es durch die Schwerkraft bedingt vorne überkippte und sich in den tiefer liegenden Wasserlauf entleerte.
Nach ein paar weiteren winzigen Justierungen war Monell mit Ton und Intervall zufrieden. Sein Blick glitt liebevoll über die akkurat beschnittenen, kleinen Bergkiefern
und die schmalen Fußpfade, die den Flanierenden unmerklich ins spirituelle Zentrum des Gartens führten, den Meditationshain, wo sich aus dem mit kunstvollen, endlosen
Mustern geharkten, feinkörnigen Sandmeer die Miniaturkopie des heiligen Berges Fuji erhob. Als er vor fünfzehn
Jahren mit der Anlage des Gartens begonnen hatte, war
 
hier noch undurchdringliche Wildnis gewesen. Jetzt war der
Garten fast perfekt. Fast.
Monell balancierte über eine Steinplatte in dem Bachlauf und trat in den Bambushain. Der schlichte Grabstein war in glatten Sand eingelassen: Rebekka Monell geb.
Favreau 1965 – 2012. Er sah sich um. Hier sollte Silas liegen.
Und ein Grabstein wie der Rebekkas würde die Symmetrie
des Haines noch hervorheben.
Gedankenversunken wärmte er seinen dünnen, nackten
Oberkörper in der Sonne, als er plötzlich Erik Kaufmann
seinen Namen rufen hörte. Vor einer Viertelstunde hatte
er tatsächlich den Helikopter landen hören, aber es gleich
wieder vergessen.
War das der Anfang? Blitzschnell zählte er im Kopf eine
Reihe Autorennamen und Filmtitel auf und die Namen der
Firmen, die er im Laufe seines Lebens aufgekauft hatte.
Sein gedanklicher Aussetzer hatte nichts zu bedeuten. Es
lag an Sanders Anruf. Silas. Kein Grund zur Sorge. Es hatte
noch nicht begonnen.
Monell folgte dem Wasserlauf zu den breiten Terrassen,
die von flachen, japanisch inspirierten Gebäuden eingerahmt
waren, die sich formvollendet in die üppige Vegetation und
die Böschungen einfügten, wie von der Insel selbst her vorgebracht. Einzige Zeugnisse der Gegenwart waren das noch
nicht ganz fertige, neue Windrad auf der Plattform am höchsten Punkt der Insel und die großen weißen Parabolantennen,
die es ihm ermöglichten, seine weltumspannende Tätigkeit
von zu Hause aus zu erledigen. Selbst im ruhigen Herzstück
des Gartens, nah am Meer, hörte er die Presslufthämmer
oben an der Baustelle, das Rauschen des Zementmischers,
 
und er sah den Kranausleger wie ein Urzeitungeheuer über
den langen weißen Zylinderrohren des Windradturmes, die
darauf warteten, aufeinandergesetzt, verbolzt und verschweißt
zu werden zum neuen Wahrzeichen der Insel.
Bertram Monell stieg die letzten Stufen zur Terrasse hoch
und schlüpfte aus seinen Sandalen. Seine Assistentin Hana,
eine junge türkische Frau, schwebte lautlos über die Zedernbretter und legte einen gequilteten Bauernkimono über seine
nackten Schultern.
Monell sah sie mit großer Zuneigung an.
»Danke, Hana.«
»Tee?«
»Später, vielleicht.«
Sie nickte lächelnd und zeigte mit einer Handbewegung
zu dem Gast, der in einem bequemen Korbsessel saß.
»Erik.«
Erik Kaufmann hob eine Hand zum Gruß, ohne Anstalten zu machen, sich zu erheben. Er war ein kräftiger, sinnenfreudiger und ausgeprägter Genussmensch mit dichter,
grauer Löwenmähne, die über seinen Anzugkragen fiel. Die
blauen Augen hinter der Architektenbrille funkelten wach,
und er hatte etwas von einem erfolgreichen, elegant ge kleideten Galeristen. Nichts war jedoch weiter von der Wahrheit entfernt als das: Kaufmann war seit über drei Jahrzehnten Monells Tensing Norgay. Seine unentbehrliche
rechte Hand, die diplomatisch oder unter Anwendung gnadenloser Brutalität den Weg für Monells zeitweise exzentrische Wünsche und Vorhaben ebnete. Darüber hinaus
war er ein echter Kosmopolit, der sich überall in der Welt
zu Hause fühlte.
 
Kaufmann stellte die Kaffeetasse ab und zündete sich
eine Zigarre an.
»Du siehst blass aus, Bertram«, sagte er.
»Sander hat ihn gefunden, Erik. Er hat Silas gefunden …«
Der Milliardär drehte sich um und schaute, die Hände
auf dem Geländer ruhend, über den Garten aufs Meer. Hana
verschwand durch eine Glastür.
»Wo?«
»In irgendeinem gottverlassenen Gefängnis in Kaschmir.
Batapora heißt das Kaff. Er wurde vor wenigen Tagen festgenommen und hat sich heute Morgen in seiner Zelle erhängt. Ich will ihn nach Hause holen, Erik. Er soll neben
Rebekka begraben werden. Du musst dich beeilen.«
Kaufmann stemmte sich mit Mühe aus dem Korbsessel
hoch. Ein Knie war von Gicht zerfressen, und er stützte
sich auf einen kräftigen, knorrigen Stock. Er stellte sich
neben Monell und teilte die Aussicht mit ihm, ohne etwas
zu sagen.
»Wir haben viele Jahre auf diesen Moment gewartet,
das weiß ich wohl, Erik«, sagte Bertram Monell leise. »Ich
dachte, ich hätte mich im Laufe der Zeit an den Gedanken
gewöhnt. Aber verdammt, doch nicht auf diese Weise. Einsam, in Kaschmir, in einem elenden Dorfgefängnis. Das ist
furchtbar traurig und so erbärmlich.«
»Du bist sein Vater, Bertram. Kein Mensch kann sich auf
den Tod seines Kindes vorbereiten, so unausweichlich er
auch sein mag. Aber tu dir den Gefallen und vergiss nicht,
dass du ihn, soweit es in deiner Macht stand, unterstützt
und beschützt hast, versucht hast, ihn wieder auf die rechte
Spur zu bringen. Ich habe irgendwann aufgehört mitzu
zählen, in wie viele Entziehungskliniken er eingewiesen
wurde … aus denen er sich selbst wieder entlassen hat.«
»Ich schon, an jede einzelne erinnere ich mich.«
»Entschuldige, aber …«
Kaufmann trat einen Schritt zurück, aber Monell legte
eine Hand auf seine Schulter und hielt ihn zurück.
»Ich muss mich entschuldigen. Das Ganze ist einfach nur
so furchtbar. Holst du ihn nach Hause?«
»Selbstverständlich.«
Monell schaute in seinen geliebten Garten, und seine
Gesichtszüge entspannten sich.
»Wir müssen nie wieder darüber reden, aber ich muss
gestehen, dass Silas einen Fehler hatte, eine fatale Charakterschwäche. Er hatte das Zeug für eine ganze Menge, aber
nicht die nötige Disziplin, und er hatte kein Ziel in seinem
Leben. Ich habe keine Ahnung, von wem er diese Initiativlosigkeit hatte. Jedenfalls nicht von mir oder Rebekka. Vielleicht haben wir es ihm zu leicht gemacht.«
»Vielleicht.«
Kaufmann zündete die Zigarre wieder an, nahm einen
tiefen Zug, ließ den Rauch über die Zunge rollen und aus
der Nase entweichen. Er hustete hinter breiter, vorgehaltener Hand.
»Und was jetzt?«, fragte er.
»Ich habe nicht vor aufzugeben, Erik. Das kann ich nicht.«
Er drehte sich mit einem unversöhnlichen Zug um den
Mund zu dem Freund um.
»Du meinst … du willst deinen Plan weiter vorantreiben?«
»Nenn es, wie du willst. Ich habe mit acht Jahren meine
erste Software geschrieben, die noch heute weltweit die
 
Flieger in der Luft hält. Ich will nicht, dass das alles verschwindet. Wir müssen dafür sorgen, dass das nicht passiert. Ich mag mir nicht ausmalen, dass ein amerikanischer
Finanzfonds das Unternehmen aufkauft, es aufsplittet und
in alle Himmelsrichtungen verteilt. Der Gedanke ist mir unerträglich. Außerdem ist da noch mein Name. Der Stammbaum der Monells reicht bis ins Jahr 1155 zurück. Das ist
nicht gleichgültig.«
Kaufmann seufzte.
»Ich verstehe.«
»Bringen wir das Ganze ins Rollen.«
»Natürlich. Wir können sofort ausrücken. Dann ist es
Sander also tatsächlich gelungen, Silas aufzuspüren? Und
das in knapp vier Monaten? Fantastisch.«
Monell lächelte.
»Bitte kein Neid, Erik. Vergiss nicht, dass du selbst es
warst, der ihn mir seinerzeit empfohlen hat. Du hast ihn als
menschliches Schweizermesser bezeichnet, und du hattest
recht damit. Er hat in den vergangenen fünf Jahren alle Aufgaben perfekt gelöst, und du weißt selbst, wie infam verwickelt einige davon waren. Ich betrachte Michael Sander als
einen vorbildlichen Menschen.«
Kaufmann musterte den Milliardär scharf.
»Ach ja?«
»Er kommt übrigens morgen oder übermorgen nach Paris
und ist im George V einquartiert. Würdest du bitte dafür
sorgen, dass es ihm an nichts fehlt?«
Erik Kaufmann nickte abwesend. »Er wird einen unvergesslichen Aufenthalt haben. In jeder Hinsicht. Das garantiere ich.«
 
»Danke.«
Hana trat mit einem Glas Wasser, Essstäbchen und einer
dampfenden Schale mit Reis und Fisch auf die Terrasse
hin aus. Sie stellte das Tablett auf den Tisch, und die beiden
Männer setzten sich.
Monell begann langsam mit seiner einfachen Mahlzeit,
eine von zwei, die er sich am Tag gönnte.
Dann tupfte er sich mit der Serviette den Mund ab, trank
langsam das Glas Wasser und schaute liebevoll über den
Garten, der in goldenem Nachmittagslicht badete.
»Ich habe jetzt zwei Blüten«, sagte er zufrieden.
»Zwei Blüten? Du meinst, zwei Arten?«
»Ich meine zwei einzelne, individuelle Blüten, Erik. Mehr
sollen es nicht werden, das erkenne ich jetzt. Es ist eine
Frage von Eloquenz. Shibumi. Shibumi ist wahrer als die
Wirklichkeit. Raffinesse ohne Oberflächlichkeit. Natürlichkeit und Unumgänglichkeit, wie ein fliegender Pfeil. Shibumi
ist die Perfektion der Natur. Das ist es, was ich will. Das
Einzige, dem ich mich für den Rest meines Lebens widmen
will.«
»Ich dachte, das wäre das Privileg Gottes«, murmelte
Kaufmann.
»Vielleicht war es das irgendwann einmal. Wir brauchen
Gott nicht mehr.«
 
DER VERGOLDETE AUFZUG glitt das letzte lautlose
Stück in die Lobby des Hotels George V hinunter, und Michael trat beiseite, um seine Begleiterin zuerst aussteigen
zu lassen. Wie zufällig streifte sie im Vorbeigehen seinen
Arm und hinterließ den Duft von Chanel Mademoiselle.
Michael schaute ihr interessiert hinterher, alles andere wäre
naturwidrig gewesen.
Etwa auf halber Strecke zum Ausgang blieb sie stehen,
ging in die Hocke und rückte den Knöchelriemen ihrer
Sandale zurecht. Ihr perfekt geformtes Hinterteil presste
gegen den dunklen, strammen Rockstoff. Die Türen des
Aufzuges glitten zu, und Michael machte einen hastigen
Schritt nach vorn.
Die junge Frau mit dem schwarz glänzenden Haar balancierte ihre Handtasche auf den Knien und lächelte ihn
selbstironisch über die Schulter an. Das Haar rutschte
vor ihr vollendetes Profil. Dann erhob sie sich und schritt
aufrecht und mit rhythmisch sinnlichem Gang durch die
Schwingtür der Hotellobby. Der Türsteher verneigte sich.
Obwohl seine Gedanken immer wieder zu der Begegnung
in der Hotellobby wanderten, konzentrierte Michael sich
auf seine Arbeit in der Hauptgeschäftsstelle von Monell
 
Industries im Vorort Argenteuil. Mit IT-Chef Monsieur
Alain, der äußerst kompetent und gut vorbereitet auftrat,
ging er die internen Sicherheitsabläufe durch. Monsieur
Alain entschuldigte sich gestenreich, wenngleich sie keinen Verstoß in den internen Protokollen der Firma entdeckten. Michael zog in Erwägung, Lenes Assistenten Bjarne
heranzuziehen, dessen DNA seiner Meinung nach von Microsoft konstruiert worden war, schob den Gedanken aber
schnell wieder beiseite. Lene hatte keine Ahnung, dass er
in Paris war, und Bjarne war grenzenlos loyal.
Nach sechs anstrengenden Stunden vor dem Computerbildschirm hatte er genug. Alain war mit dem Kopf auf den
Armen eingeschlafen.
Michael legte dem Franzosen eine Hand auf die Schulter, der mit einem Ruck den Kopf hob.
»Entschuldigung …«, murmelte er.
Er strich sich über den Anderthalbtagebart.
»Wollen Sie nicht nach Hause gehen?«, fragte Michael.
Er lehnte sich zurück und streckte sich, verschränkte die
Finger hinterm Nacken und schaute an die Decke.
»Glauben Sie mir, Michael, nichts lieber als das. Aber ich
begreife einfach nicht, wie das passieren konnte. In meiner
Abteilung. Ich sehe das Problem. Die Fakten. Aber so etwas
ist bisher noch nie vorgekommen, und ich bin seit achtzehn Jahren hier. Wir müssen …«
Michael nahm sich noch einmal die Bankauszüge der
Schlüsselpersonen aus der Patentabteilung vor. Er konnte
die Zahlen inzwischen auswendig.
»Keiner Ihrer Mitarbeiter hat plötzlich und unerwartet
Schlösser in der Toskana, Bugattis, ukrainische Topmodels,
 
gigantische Luxusjachten in der Karibik oder Gestüte in Irland erworben«, sagte er.
»Nicht, dass ich wüsste, nein. Lassen Sie mich klarstellen, dass die Gehälter bei Monell Industries erheblich über
dem Durchschnitt liegen. So war es schon immer. Das ist
natürlich bewusste Politik, die hellsten Köpfe an Bord zu
holen, sowie eine gute Voraussetzung, dass niemand sich
dazu veranlasst sieht, die Firma oder Monsieur Monell persönlich zu hintergehen.«
»Selbstverständlich.«
Michael schaute auf die Uhr.
»Wir sind beide müde, und niemand hat etwas davon, wenn
zwei Zombies die ganze Nacht auf Bildschirme starren.«
Er leerte den Pappbecher mit kaltem Kaffee, stand auf und
zog seine Jacke an. Monsieur Alain lächelte dankbar.
»Und Sie sind sicher nicht derjenige, der die Blueprints
an die Konkurrenz schickt?«, fragte Michael beiläufig.
Alain errötete und begann, sich hektisch zu erklären.
Michael sah ihn gelassen an.
»Regen Sie sich nicht auf, Alain«, sagte er, als der Pariser
den Wortschwall unterbrach, um Luft zu holen. »Das war
ein Scherz. Wenn Sie ernsthaft unter Verdacht stünden,
säße sicher nicht ich hier, sondern Erik Kaufmann und ein
paar seiner Mitarbeiter, und die hätten Sie längst aufgefordert, sich die Finger abzubeißen. Soweit ich weiß, zieht er
für seine Aktivitäten Mitarbeiter aus der Fremdenlegion vor.«
Alain lächelte bitter. »Der berühmte dänische Humor.
Très joli … très … Und ja, das mit den Ex-Soldaten habe ich
auch gehört. Warum auch nicht? Es ist allgemein bekannt,
dass die französischen Spezialeinheiten die besten sind.«
 
»Der Meinung sind einige israelische Sajeret-Einheiten,
amerikanische SEAL-Teams und das eine oder andre britische oder australische SAS-Regiment möglicherweise nicht«,
sagte Michael.
Er sollte längst im Bett liegen, um seinen indischen Jetlag
zu pflegen, aber irgendetwas hielt ihn an der legendären
Bar im George V fest. Vielleicht hatte Coco Chanel genau
hier gesessen. Charlie Chaplin. Pablo Picasso. Ernest Hemingway. Die Bar war ein hedonistischer Tempel, ausgestattet mit Marmor, Mosaiken, venezianischen Kronleuchtern,
Ebenholz und poliertem Mahagoni. Michael schob das
schwere Glas mit dem goldenen Single Malt in einem komplizierten und nur ihm schlüssigen Muster auf dem Bartresen hin und her und starrte auf sein Mobiltelefon. In den
Ohren das zivilisierte Murmeln wohlhabender Touristen,
primär Chinesisch und Russisch, begleitet von der wunderbar verdichteten Musik, die entstand, wenn der Barkeeper
die berühmten Cocktails des Hauses mixte.
Die alte Rastlosigkeit, die er seit seiner Kindheit kannte,
war mit voller Stärke zurückgekehrt. Er sehnte sich nach
den Fahrten mit Gurpal über staubige Landstraßen, die
sich durch die Berge und Täler des Himalaja schlängelten. Wieso gab es zwischen Mann und Frau nicht so eine
großzügige und nachsichtige Freundschaft? Weil jede Bemerkung unausweichlich durch ein vorgehaltenes Prisma
früherer Konflikte, Kompromisse, Komplexe, eingefahrener
Kommunikationsmuster und Neurosen gedeutet wurde.
Weil ihre Mütter, Schwestern und Freundinnen immer mit
im Bett lagen. Weil Frauen niemals irgendetwas vergaßen,
 
keine Bagatellgrenze kannten und weil alles die gleiche
Prio rität hatte, Großes wie Kleines; zutiefst emotional, sensibel. Und weil Großzügigkeit eins der ersten Todesopfer
jeder Beziehung war.
Philosophen und Soziologen hatten unrecht: Frauen und
Männer kamen nicht von unterschiedlichen Planeten. Sie
kamen von entgegengesetzten Rändern unterschiedlicher
Galaxien. Er und Lene jedenfalls schienen in friktionsloser
Stille aneinander vorbeigeglitten zu sein und in verschiedene
Himmelsrichtungen auseinanderzutreiben.
Er hätte in diesem Moment nichts dagegen gehabt, von
Bertram Monell oder einem anderen seiner Stammklienten mit einem neuen und nahezu unmöglich zu lösenden
Auftrag in den hintersten Winkel der Erde beordert zu werden, nur um nicht zurück nach Dänemark zu müssen.
Michael sah sie im Spiegel. Sie stand an der Eingangstür
und sah sich mit leicht zusammengekniffenen Augen um,
als wäre sie kurzsichtig, aber zu eitel, eine Brille zu tragen. Das elegante Kleid schmiegte sich ebenso verliebt um
ihren Körper wie das, das sie am Vormittag getragen hatte.
Sie gehörte zu der Sorte Frau, die das Licht anzog und es
freigebig wieder zurücksandte.
Michael bestellte seufzend einen weiteren Lagavulin.
Eine SMS von Monsieur Alain informierte ihn über Zeit
und Ort für die morgige herkulische und vermutlich fruchtlose Arbeit in Argenteuil. Michael las die Nachricht und
hörte ihre Stimme sehr nah neben sich.
»Was empfehlen Sie mir, Old Fashioned, A Slap And A
Tickle oder doch eher einen Sidecar?«
 
Sie stand dicht neben ihm, er spürte die Wärme ihres
Körpers.
Er drehte den Barhocker eine viertel Umdrehung und lächelte freundlich.
»Pardon?«
Die junge Frau lachte ihn an.
»Es ist nur … Ich bin nicht sehr bewandert, was das hier
angeht …« Sie wedelte mit der umfangreichen Getränkekarte. »Allein die Namen. Bei manchen weiß man nicht, ob
man einen Drink bestellt oder den Barkeeper und seine Freundin gleich mit auf sein Zimmer einlädt.«
Sie klappte die Karte wieder auf.
»Taugt ein Stinger was, oder ist das ein Nuttencocktail?«,
fragte sie skeptisch.
Michael betrachtete sie ruhig. Die junge Frau hatte eine
große, mit schweren Büchern und Mappen beladene Schultertasche dabei. Er hatte schon immer schräge Vögel angezogen – Männer wie Frauen –, aber sie war anders.
»Ich könnte mir denken, dass er genau das ist«, antwortete er.
Sie lächelte und sah ihm tief in die Augen. Sie war jung.
Viel, viel zu jung.
»Okay, ich dachte nur, Sie sehen aus wie einer, der sich
auskennt …« Sie brach den Satz abrupt ab, errötete und
legte eine Hand auf seinen Arm. »Entschuldigen Sie, ich
wollte damit nicht sagen, dass Sie aussehen wie einer, der
ständig in Bars rumhängt und in kein Glas spuckt.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich habe tatsächlich ein recht inniges Verhältnis zu Hotelbars«, sagte
Michael.
 
Er nahm ihr die Karte ab.
»Was mögen Sie?«
»Keine Ahnung. Harry’s Bar hat ihren Bellini und The
Artesian seinen Digivida. Ich dachte, George V hätte vielleicht auch so einen Haus-Cocktail.«
Sie lehnte sich so dicht an ihn, dass kein Geldschein mehr
zwischen sie passte.
»Damit Sie in Facebook posten können? War hier, hab
alles probiert?«
»So bin ich überhaupt nicht«, sagte sie nüchtern.
»Natürlich nicht. Wie auch immer, die Bar hat tatsächlich einen Signature Cocktail, den Voodoo Vanda. Irgendwas mit Wodka und … verschiedenen Blütenlikören. Lila.
Ich bin sicher, das hat was mit dem sich durch alle Bereiche ziehenden Orchideenmotiv des Innenarchitekten zu
tun.«
»Haben Sie ihn schon probiert?«
»Ich bin heterosexuell«, sagte Michael.
Sie lachte und streckte ihm die Hand entgegen: »Rose.«
»Michael. Sie sind aus Südafrika?«
»Kapstadt, ja. Und Sie?«
»Dänemark.«
Rose schob sich auf den Barhocker neben ihm.
Er genoss den magischen Moment, weil er so unerwartet kam und ohne sein Zutun. Es lag eine anspruchslose
Leichtigkeit und ein ungekünstelter Lebensappetit in ihrer
Art.
»Was trinken Sie?«, fragte sie.
»Single Malt. Lagavulin. Keine Kräuter oder Blüten.«
Rose gab dem Barkeeper ein Zeichen.
 
»Ich hätte gerne das Gleiche wie er. Und Sie, noch Lust
auf einen?«
Michael zögerte und sah sie an. Dann zuckte er mit den
Schultern.
»Warum nicht?«
 
MICHAELS SUITE WAR in Grautöne getaucht. Ihre Körper verschwammen in den Schatten; unzertrennlich vereint. Rose saß über ihm, ganz fokussiert auf ihren Genuss.
Angespannte Kiefermuskeln, nach innen gewandter Blick.
Ihre vollendeten Brüste wippten elastisch vor seinen Augen,
Michael konnte sich nicht sattsehen an ihnen. Ihre feuchten
Finger glitten verspielt in seinen Mund, seinen Hals hin unter, in ihren eigenen Mund, ehe sie auf seiner Schulter liegen blieben. Ihre Nägel bohrten sich in seine Haut. Sie stöhnte
rhythmisch und heiser.
Michaels Griff um ihre Hüfte wurde fester, er drückte sie
so fest an sich, dass ihre Bewegungen kaum noch zu spüren waren. Sie hielt die Luft an, öffnete die Augen und sah
mit geweiteten Pupillen durch ihn hindurch. Dann zog ihre
wunderbar weite Möse sich zusammen, zuerst wie sanfte
Flügelschläge um seinen Schwanz – ganz tief –, dann fester
und schließlich fast krampfartig. Sie ließ ihn los und fuhr
sich ekstatisch mit den Fingern durchs Haar, als sie kam,
und er hielt sie fest, als wollte er sie nie mehr loslassen.
Die Bewegungen ebbten langsam aus. Rose kehrte in die
Wirklichkeit zurück und legte schwer atmend den Kopf in
den Nacken. Zwischen ihren Brüsten glänzten Schweißtropfen, ihre dunklen Brustwarzen waren hart....................
 
 
 

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