Schnee Nacht

 

Kriminalinspektorin Embla Nyström verbringt den Winter im ländlichen Dalsland auf dem Hof ihres Onkels. Eines Morgens wird sie zu einem spektakulären Mordfall gerufen. In einer Hütte im Wald liegt ein Toter mit Einschüssen in Kopf und Brustkorb. Embla erkennt den Mann sofort. Es ist einer der mutmaßlichen Entführer ihrer besten Freundin Lollo, die vor gut vierzehn Jahren spurlos verschwand und nie wieder auftauchte. Alte, schmerzhafte Erinnerungen werden wach und Embla beginnt zu ermitteln. Doch ein nächtlicher Schneesturm verwischt alle Spuren ...

 

 

Das ist der dritte Band in dem Embla Nyström Ermittelt. Die Vorgänger waren Jagd Revier und Sand Grab.

Sandgrab habe ich Euch auch vorgestellt und war auch mein erstes Band dieser Reihe.

Aber es ist nicht zwingend erforderlich die Vorgänger Bände zu lesen.

 

Die Handlungsorte in dem Buch sind Super beschrieben man ist automatisch in der Umgebung drinnen, auch sind die Charakete super beschrieben so das man gut in die Geschichte rein kommt.

Im Buch gibt es immer wieder Rückblicke aus der Vergangenheit von Embla so dass man genau nachvollziehen kann worum es geht.

Außer den Ermittlungen gibt es auch immer mal wieder Zwischen menschliche Teile so dass es Super zu lesen ist und es nicht nur um Mord und Totschlag geht.

 

Es ist nun 14 Jahre her das Lollo verschwunden ist und Embla plagen immer noch Alpträume. Sie war damals die einzige Zeugin hat aber bei der Polizei falsche Angaben gemacht. Nun bekommt Embla einen Anruf wo sie der Meinung ist das es Lollo war, also war Lollo noch am Leben. Aber wo war sie was ist passiert?

Embla beschließt Urlaub zu machen bei ihrem Onkel wo sie sich immer noch Gedanken um den Anruf macht. Doch dann passiert ein Mord in dem Ort und sie beschließt zu ermitteln den der Tote war ein Tatverdächtiger im Vermissten fall Lollo.

Hatte der Anruf damit was zu tun?

Für die Ermittlungen bekommt Embla Unterstützung von dem Ansässigen Polizeiinspektor Olle Tillmann.

Die Ermittlungen erweisen sich als schwierig da durch die Wetterverhältnisse im Schnee einige Spuren verwischt oder sogar verschwunden sind. Und zu allem Übel wird das auch nicht der letzte Mord sein. Bekommt Embla Antworten auf das was vor 14 Jahren passiert ist oder wird das verschwinden wieder nicht geklärt und warum die Morde? Lest es selber…..

 

 

Leseprobe

 

Die Haustür wurde sachte einen Spaltbreit geöffnet, vorsichtig schob sich ein Kopf hindurch. Alles schien ruhig zu sein, und der Mann trat auf die kleine Veranda hinaus. Ohne Eile steckte er eine Pistole in seinen Hosenbund und ließ ein Handy in die Jackentasche gleiten. Dann machte er den Reißverschluss seiner Lederjacke zu, rückte seine Nachtsichtbrille zurecht und setzte die Kapuze des Pullis auf, den er unter der Lederjacke trug. Zu beiden Seiten des Hauses breiteten sich Äcker aus, ein Vorteil für ihn, da kein Mensch in der Nähe war, der ihn sehen oder hören konnte. Sicherheitshalber langte er durch den Türrahmen ins Haus und schaltete das Außenlicht aus. Zugleich zog er innen den Schlüssel ab. Und anstatt die Tür leise und sorgfältig zu schließen, zog er sie lässig und mit Schwung zu. Dann schloss er ab und drehte sich um, wobei er den Schlüssel mit einer Bewegung aus dem Handgelenk hinaus in die Dunkelheit beförderte, bevor er bedächtig die vereisten Stufen hinabstieg. Schon nach wenigen Schritten verschluckte ihn die Nacht. Als der Sturm einsetzte, peitschte er die Schneekristalle von Westen her waagerecht durch die Luft. Der Wind heulte heftig und wirbelte auch den Schnee auf, der ein paar Tage zuvor gefallen war. Innerhalb weniger Minuten konnte man nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen.

Plötzlich gab der Boden unter ihren Füßen nach, und sie sank mit jedem Schritt tiefer ein. Weiter, weiter! Beeil dich! Sie näherte sich langsam dem Licht, und über das Pochen in ihren Ohren hinweg meinte sie Stimmen zu hören. Dann sah sie ein Stück entfernt drei große Schatten, die sich über eine kleinere zusammengekauerte Figur beugten, die Lollo sein musste. Lieber Gott, mach, dass es noch nicht zu spät ist! Ich werde auch nie mehr … Lieber Gott … Bitte hilf uns! Embla versuchte zu rufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Im selben Moment drehte sich einer der Schatten in ihre Richtung um, und sie wusste, dass sie geliefert war. Sie erstarrte vor Schreck, doch dann versuchte sie zu fliehen. Aber sie hatte einen Sekundenbruchteil zu lange gezögert. Ihre Füße steckten fest, und der bedrohliche Schatten flog rasend schnell auf sie zu. Schließlich packte er sie mit beiden Händen fest am Hals und würgte sie. »Wenn du auch nur ein Wort sagst, bist du tot! Wir wissen, wer du bist und wo du wohnst!«, zischte er. Verzweifelt presste sie hervor: »Lollo, Loll …« »Vergiss sie!« Dann stieß er Embla zu Boden. Die Wände um sie herum stürzten ein, und sie versank in eiskaltem Schlamm, der ihr in Nasenlöcher und Mund drang. Atmen … Sie bekam keine Luft mehr! Unter ihr wankte der Boden. Embla wachte davon auf, dass sie senkrecht im Bett saß und verzweifelt nach Luft rang. Der Angstschweiß rann ihr zwischen den Brüsten herunter, und das T-Shirt klebte am Rücken.

Wie jedes Mal, wenn sie aus diesem wiederkehrenden Albtraum erwachte. Doch diesmal war irgendetwas anders als sonst. Der Boden unter ihrem Bett wankte. Normalerweise wachte sie davon auf, dass sie keine Luft mehr bekam. Aber warum wankte der Boden? Und wo war sie überhaupt? Allmählich kam sie zu sich und stellte fest, dass nicht der Fußboden, sondern ihr Bett sich bewegte. Das kleine Gästezimmer im Haus ihres Onkels Nisse war eng, doch am Fußende ihres Bettes war gerade noch Platz für ein Zustellbett. Und von dort kam auch das Rütteln. Ein verwuschelter brauner Haarschopf tauchte an ihrem Fußende auf, und unter den Locken leuchteten zwei hellwache Augen. Ungeduldig rüttelte Elliot weiter an ihrem Bett. »Steh auf! Heute wollen wir doch auf die Jagd gehen!« Freudig sprang er von seinem Bett in ihres. »Jagd! Jagd! Jagd!« Er sang seine selbst erdachte Melodie, während er weiter herumhüpfte. Und obwohl sie noch nicht ganz wach war, musste sie lachen. Elliot war sowieso schon recht lebhaft, doch in diesem Augenblick war der Junge völlig überdreht. »Ja, ja, aber geh erst zur Toilette und zieh dir dann die Sachen an, die im Flur überm Stuhl hän …« Weiter kam sie nicht, denn er war bereits aus dem Bett gesprungen und im kleinen Duschbad verschwunden, das zum Gästezimmer gehörte. Elliot war das Beste, was ihr von der knapp ein Jahr währenden Liebesbeziehung mit Jason Abbot geblieben war, einem Jazzmusiker, mit dem sie vor fast fünf Jahren einmal zusammen gewesen war. Sie hatten wegen Jasons notorischer Untreue viele nervenaufreibende Streitereien gehabt und sich schließlich getrennt.

Doch Embla hatte nach wie vor einen guten Draht zu seinem Sohn, und Jason war als alleinerziehender Vater clever genug, um einer weiteren erwachsenen Person Zugang zum Leben seines Sohnes zu gewähren. Elliots Mutter war gestorben, noch bevor Elliot ein Jahr alt gewesen war, und der Junge konnte sich nicht an sie erinnern. Jasons Familie lebte auf Jamaica und in Miami, und die einzige nahe Verwandte in Schweden war eine Tante von Elliot, geschieden, mit drei Kindern. Sie hatte mehr als genug mit sich und ihrer eigenen Familie zu tun. Embla blieb noch ein wenig im warmen Bett liegen und versuchte die Reste der Panik abzuschütteln, die sich wie ein schwerer Stein auf ihre Brust gelegt hatte. In der vergangenen Woche war der Albtraum jede Nacht wiedergekommen. Der Grund dafür war offensichtlich. Ihre beste Freundin seit Kindheitstagen, Louise, genannt Lollo, die vor vierzehneinhalb Jahren spurlos verschwunden war, hatte plötzlich wieder von sich hören lassen. Am späten Freitagabend vor acht Tagen hatte Emblas Handy geklingelt. Als das Intro von Star Wars, der Originalsoundtrack von 1977, ertönte, war Embla genervt gewesen, weil sie annahm, dass es schon wieder Nadir war, mit dem sie kurz zuvor am Telefon Schluss gemacht hatte. Deshalb meldete sie sich nur knapp mit ihrem Namen. Doch außer raschen Atemzügen war nichts zu hören gewesen. »Hallo! Wer ist da?«, hatte sie gefragt. Schließlich, nach einer Weile, flüsterte eine weibliche Stimme: »Åsa? Ist da Åsa?« Ihr sträubten sich die Nackenhaare. In den letzten Jahren hatte sie niemand mehr Åsa genannt. Mittlerweile riefen sie alle bei ihrem Taufnamen Embla. Doch als Kind hatte sie diesen Namen verabscheut, weil kein anderes Mädchen außer ihr so hieß. Sie hatte allen Freundinnen und sogar ihrer Lehrerin weisgemacht, dass sie Åsa hieße, was in Wirklichkeit ihr Zweitname war.

Erst als sie älter wurde, nannte sie sich wieder Embla, denn inzwischen mochte sie den Namen wirklich und fand ihn viel cooler. Doch jemand, der seit den frühen Teenagerjahren keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt hatte, konnte das nicht wissen. Und die Anruferin hatte sie seit vierzehneinhalb Jahren nicht mehr gesehen. Embla wusste ganz sicher, wer dran war, sie erkannte die Stimme sofort wieder. »Lollo!«, rief sie ins Handy. Doch am anderen Ende war nur ein Keuchen zu hören, dann wurde das Gespräch beendet. Im ersten Moment war sie völlig geschockt, doch allmählich wurde ihr bewusst, dass ihre Freundin tatsächlich noch lebte, und sie beruhigte sich wieder. Zugleich schossen ihr tausend Fragen durch den Kopf: Wo war Lollo? Schwebte sie in Gefahr? Würde sie noch einmal von sich hören lassen? Und was hatte sie ihr sagen wollen? Nachdem sie lange mit sich gerungen hatte, fasste Embla einen Entschluss. Sie würde einer Person ihres Vertrauens von Louises Verschwinden erzählen. Und zwar die ganze Wahrheit. Endlich. Für dieses Bekenntnis, das ihr Lebenstrauma betraf, kam letztlich nur einer infrage. Sie rief ihren ehemaligen Chef, Kriminalkommissar Göran Krantz, an, den Leiter der Technischen Abteilung bei der Polizei in Göteborg. Am Telefon erzählte sie ihm, wie ihre beste Freundin eines Nachts plötzlich verschwand, als sie vierzehn gewesen waren. Embla war damals zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben sternhagelvoll gewesen, sodass ihre Erinnerung an den Nachtklub selbst, wie es dort ausgesehen hatte und wie sie dorthin gelangt waren, recht verschwommen und ziemlich wirr war. Nur die Szene aus ihren ständig wiederkehrenden Albträumen hatte sich unauslöschlich in ihrem Gedächtnis verankert.

Drei Männer, die über Lollo gebeugt standen. Der Würgegriff. Die Todesdrohungen. Ihre eigene Machtlosigkeit. Ihre Schuldgefühle. In ihrem Bericht sparte Embla nichts aus. Doch da Embla und Elliot schon am Morgen darauf für eine Woche nach Dalsland fahren wollten, einigten sich Göran und sie darauf, sich zu treffen, sobald sie wieder zurück in Göteborg wäre. Und während sie gemeinsam mit dem Jungen die Skiferien verbringen würde, würde Göran schon einmal versuchen, einen Blick in die Ermittlungsunterlagen zu Louises Verschwinden zu werfen. Er konnte ihr allerdings nichts versprechen, denn die Arbeitsbelastung in der Technischen Abteilung war immens hoch, und die gesamte Belegschaft ging schon auf dem Zahnfleisch. Falls ihre Freundin sie während des Winterurlaubs erneut kontaktierte, sollte sich Embla umgehend bei Göran melden, damit sie versuchen könnten, den Anruf zurückzuverfolgen. Danach war Embla froh, mit ihm gesprochen zu haben. Sie war dankbar dafür, dass er sie ernst nahm und ihr dabei helfen wollte herauszufinden, was Lollo genau zugestoßen war. Seit Lollos Anruf zermarterte sich Embla das Hirn über ihr Verschwinden. Alles war wieder präsent, und es fühlte sich an, als würde ihr der Schädel platzen. Nur wenn sie mit Elliot und Nisse zusammen war, konnte sie vorübergehend abschalten. Es dauerte nicht lange, bis die Tür zum Bad wieder aufflog. Elliot stürmte hinaus in den Flur, noch immer sein Liedchen vor sich hin trällernd, begleitet vom Rauschen der Toilettenspülung. Die Melodie war hinreißend, doch der Text umso eintöniger, da er nur aus einem einzigen Wort bestand: Jagd. Elliot betonte es einfach nur unterschiedlich und sang es in variierenden Tonarten. Da er die Musikalität seines Vaters geerbt hatte, besaß er ein Gefühl dafür, wie man einen Song vortrug, aber der Ein Wort-Text, den er nun schon seit Tagen ununterbrochen herunterleierte, ermüdete Embla allmählich.

Oder besser gesagt: seit dem Zeitpunkt, als Embla sich von Nisse hatte überreden lassen. »Lass den Jungen doch einfach mal erleben, wie es ist, an einer Jagd teilzunehmen«, hatte der gesagt. Allerdings hatte sie noch immer Zweifel, ob es gut war, einen Neunjährigen auf eine Pirschjagd mitzunehmen. Sie selbst war beim ersten Mal fünfzehn gewesen, was sie auch als Begründung dafür angeführt hatte, es sei besser, noch ein paar Jahre zu warten. Doch Nisse hatte entgegnet, dass er selbst genauso alt gewesen war wie Elliot, als er zum ersten Mal mit in den Wald durfte. Aber bei uns liegt das seit unzähligen Generationen im Blut, die Jagd hat Tradition, dachte sie. Auf Elliots Familie traf das nicht zu. Die vertrauten Geräusche aus dem Erdgeschoss drangen zu ihr herauf: das Blubbern der Kaffeemaschine, das Klappern von Geschirr, die Schritte auf dem knarrenden Küchenfußboden und die leisen Stimmen aus dem Radio im Hintergrund. Lauter gewohnte Geräusche, die davon zeugten, dass ihr Onkel Nisse gerade das Frühstück zubereitete. Wie jeden Morgen war er als Erster wach. Er war schon immer ein Frühaufsteher gewesen, was nichts Ungewöhnliches ist, wenn man einen kleinen Bauernhof mit Tieren besitzt. Diese müssen schließlich versorgt werden, bevor man zur Arbeit fahren kann. Nisse hatte sein Leben lang im Sägewerk gearbeitet, doch seit zwei Jahren war er Rentner und leider auch Witwer. Er und seine Frau Ann-Sofi hatten keine eigenen Kinder, aber Embla hatte die beiden oft besucht, seit sie klein war. Sie fühlte sich wohl auf dem Land mit dem Wald, den Tieren und der Natur um sich herum. Vielleicht hatte sie sich hier schon immer mehr zu Hause gefühlt als im Kreis ihrer Eltern und Geschwister mitten in Göteborg.

Sie war eine Nachzüglerin gewesen. Ein Kind, für das die Familie eigentlich keine Zeit gehabt hatte. Ihre drei älteren Brüder hatten jeder auf seine Weise viel Raum eingenommen, und alle drei gingen schon zur Schule, als sie geboren wurde. Das Gefühl aus ihrer Kindheit, an das sie sich am eindrücklichsten erinnerte, war Einsamkeit. Doch zum Glück hatte sie Lollo gehabt … Beim Gedanken an ihre Freundin aus Kindertagen zuckte sie unwillkürlich zusammen. Jetzt war sie schlagartig wach. Im selben Augenblick rief Nisse von unten: »Frühstück!« Mit einem herzhaften Gähnen räkelte sie sich, bevor sie widerwillig aus dem Bett kroch. Dann zog sie geräuschvoll die Jalousie hoch, um noch eine Weile vor dem Fenster stehen zu bleiben und hinauszuschauen. Zu ihrem Erstaunen war über Nacht massenweise Schnee gefallen. In den Tagen zuvor hatte es insgesamt ungefähr fünfzehn Zentimeter Neuschnee gegeben, doch nach dieser Nacht war die Schneedecke fast einen halben Meter hoch. Ein weiterer guter Grund, die Jagd abzublasen – neben ihren Bedenken Elliot betreffend. Außerdem war es extrem kalt. Das Thermometer an der Außenseite des Fensters zeigte minus elf Grad an, und es stürmte noch immer heftig. »Embla, beeil dich!« Elliot rief ungeduldig aus der Küche nach ihr. In zwei Tagen würde die Schule wieder beginnen. Dann könnte er vor seinen Klassenkameraden mit der Jagd prahlen, und alle würden große Augen machen. Keiner würde Elliots Erlebnisse toppen können, denn eine Jagd zählte viel mehr als eine Charterreise nach Gran Canaria oder ein Skiurlaub in Åre. Elliot konnte kaum stillsitzen; sein ganzer Körper vibrierte, und er hüpfte vor lauter Aufregung immer wieder von seinem Stuhl hoch.

»Aber ich krieg doch auch ein Gewehr, oder? Also ein kleines, ja? Es muss auch nicht geladen sein. Oder nur ein bisschen vielleicht. Falls ein Bär kommt oder so.« »Elliot, es wird kein Bär kommen. Bären halten Winterschlaf. Und außerdem wollen wir doch nur schauen, ob wir einen Fuchs aufs Korn nehmen können«, entgegnete Nisse. »Einen Fuchs? Aber wenn nun ein Wolf kommt? Dann brauche ich ein Gewehr! Und wir erschießen ihn sofort! Bumm!« Der Junge zielte mit beiden Zeigefingern auf ein imaginäres Tier draußen im Flur. Dabei zuckte sein ganzer Körper bei jedem Schuss, den er abgab. »Peng! Peng! Bumm!« »Ziemlich starker Rückstoß«, bemerkte Nisse und zwinkerte Embla zu. Sie lächelte zustimmend. Doch noch immer nagte der Zweifel an ihr, ob es wirklich eine gute Idee war, den Jungen mit auf die Jagd zu nehmen. Der viele Schnee, die eisige Kälte und die Tatsache, dass er erst neun war … »Und Seppo muss auch mit!«, rief Elliot begeistert und deutete auf den großen Elchhund, der neben dem Ofen auf einem alten Teppich lag. Als der Hund seinen Namen hörte, öffnete er ein Auge und spitzte die Ohren. Gab es vielleicht etwas zu fressen? Als er feststellte, dass dem nicht so war, schloss er das Auge wieder und schlummerte weiter. »Nein, Seppo ist kein Hund für eine Fuchsjagd. Er ist eher auf Elche und Rehe trainiert«, erklärte Nisse geduldig. »Und welche Hunde jagen dann Füchse?«, wollte Elliot wissen. »Kleinere Hunde. Oft sind es Terrier. Zum Beispiel …« In diesem Moment klingelte das Telefon. Nisse stand auf, ging  zum Apparat an der Wand neben der Tür und nahm den Hörer ab.

»Hallo! Wie geht’s euch denn drüben in Herremark so?«, fragte er gut gelaunt. Da wusste auch Embla, wer anrief. Harald Fäldt, der Cousin ihrer Mutter und ihres Onkels Nisse. Nisse hatte über die Jahre immer Kontakt zu Harald und seiner Frau Monika gehalten, doch sie selbst hatte die beiden schon lange nicht mehr gesehen und konnte sich kaum noch an ihre letzte Begegnung erinnern. Doch, genau: Er und Monika hatten im Resort einmal ein großes Fest ausgerichtet. Ein Sommerfest, vielleicht zu Mittsommer. Embla war erst sieben oder acht Jahre alt gewesen. »Hast du noch so ’n kleines Gewehr von damals, als du so alt warst wie ich? Ja? Kann ich das haben? Bitte!« »Nein, Elliot, es gibt keine Gewehre für Kinder. Und ich hab mein erstes eigenes Gewehr auch erst mit achtzehn bekommen, nachdem ich den Jagdschein gemacht hatte.« Elliot schob die Augenbrauen zusammen und wirkte verunsichert. »Was für’n Ding?« »Einen Jagdschein.« »Und was ist das?« »Hm, so was Ähnliches wie in die Schule gehen.« Seine Miene nahm einen grüblerischen Zug an, doch schon nach wenigen Sekunden hellte sie sich wieder auf. »Hast du da was über Gewehre gelernt?« »Ja. Aber man lernt auch vieles über die Tiere im Wald und alle Regeln, die dort gelten. Schusswaffen sind etwas sehr Gefährliches, wenn man nicht aufpasst, kann man damit einen Menschen töten.« Elliot nickte ernst. Das hatte er verstanden.

»Und wenn diese Schule zu Ende ist, darf man dann mit einem Gewehr schießen?«, fragte er wissbegierig. »Ja. Aber man muss erst achtzehn Jahre alt sein.« Er verdrehte seine großen, grünbraunen Augen, während sich sein schmaler Brustkorb mit einem tiefen Seufzer hob und senkte. Nisse wandte sich Embla zu und deutete auf das Wandtelefon. »Könntest du kurz mit Harald sprechen? Sie haben drüben in Herremark ein Problem.« Embla stand vom Tisch auf, um den Hörer von ihrem Onkel zu übernehmen. »Hej, hier ist Embla.« »Hej. Hier ist Cousin Harald. Also natürlich nicht dein Cousin, sondern Sonjas und Nisses. Aber wir sind ja trotzdem miteinander verwandt.« Er klang angespannt und leicht verwirrt und versuchte sich mit mehreren tiefen, wenn auch pfeifenden Atemzügen zu beruhigen. »Es ist schon eine Weile her, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Aber Nisse hat erzählt, dass du mit dem kleinen Jungen für eine Woche herkommen würdest. Und ich weiß, dass du Polizistin bist und in Mordfällen und dergleichen ermittelst. Hier ist nämlich etwas Schreckliches passiert. Einer unserer Gäste ist heute Nacht erschossen worden. Wir haben ihn am Morgen gefunden«, erklärte er und bemühte sich um einen beherrschten Ton. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass sich die Leute im beschaulichen Herremark gegenseitig umbrachten, doch nach ihrer Zeit als Ermittlerin bei der Mobilen Einheit der Bezirkskriminalpolizei Västra Götaland, abgekürzt MEB, wusste Embla,  dass selbst in der schönsten Idylle Kapitalverbrechen begangen wurden.

Dennoch war sie erstaunt. »Erschossen? Kann es sich eventuell um einen Selbstmord handeln?«, fragte sie leise, damit Elliot es nicht mitbekäme. Doch ihre Vorsichtsmaßnahme war unbegründet. Ein langweiliges Telefonat interessierte ihn nicht im Geringsten, wo er doch gerade damit beschäftigt war, eine Strategie für die Jagd zu entwerfen. Nisse nickte zustimmend zu Elliots Überlegungen. »Er liegt im Bett. In den Kopf geschossen«, antwortete Harald knapp. Seine Stimme zitterte. Embla schwieg eine Weile, während sie intensiv nachdachte. Mord oder Selbstmord? Manchmal konnte man das nur schwer abschätzen. Doch die meisten Leute, die beschlossen hatten, ihrem Leben mit einer Waffe ein Ende zu setzen, schossen sich in den Kopf, das wusste Embla. »Und wo befindet er sich?«, fragte sie. »In einer der Hütten, die wir vermieten.« Danach stellte sie die wichtigste Frage überhaupt: »Hast du schon die Polizei verständigt?« »Ja. Aber weil heute Samstag ist, waren nur die Beamten in Åmål erreichbar. Und die sind gerade mit einem anderen Mord beschäftigt, der heute Nacht in der Gegend verübt wurde. Nur wenige Kilometer von hier entfernt. Ein junger Mann wurde erstochen. Die Floorball-Mannschaft hatte eine Feier ausgerichtet.« »Okay. Aber die Polizei in Bengtsfors …«, begann sie, wurde jedoch unterbrochen. »Die Dienststelle ist wie gesagt am Wochenende geschlossen. Sie wird übrigens bald ganz dichtgemacht, wie ich gehört habe. Oder Monika hat es gehört.« Eine rasselnde Hustenattacke folgte auf seine Worte. Es wäre das Beste, direkt hinzufahren, dachte Embla

 

 

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